Reichweite erhöhen 23.09.2015, 12:05 Uhr

Growth Hacking: Viel Wachstum für's Geld

Ist Growth Hacking "das nächste grosse Ding" oder nur ein weiteres Marketing-Buzzword? Selbst Experten tun sich mit der Einordnung des Phänomens bisweilen schwer.
(Quelle: shutterstock.com/art4all)
Manchmal macht ein Begriff Furore und nicht einmal ausgewiesene Experten können sagen, wie und wann genau das Thema, um das es geht, eine eigene ­Kategorie geworden ist. Ähnlich könnte es auch beim neuesten Reichweiten-Buzzword der Online-Marketer "Growth Hacking" gewesen sein.
Hendrik Lennarz, Executive Director Product and Technology oder - wie er sagt - "Growth Manager" beim Prüfsiegelanbieter Trusted Shops sowie Betreiber des Blogs "Growthhackerlove.com", stiess vor etwa zwei Jahren auf einen Artikel.
Nachdem er gelesen hatte, was der Autor unter einem Growth Hacker versteht, dachte er: "Cool. Das ist das erste Mal, dass jemand es geschafft hat aufzuschreiben, was du wirklich tagtäglich machst." Kurz zusammengefasst geht es bei seiner Arbeit um den Einsatz datenbasierter Marketing-Massnahmen mit dem Ziel, Nutzerwachstum zu errreichen. Tatsächlich entstanden ist der Begriff vermutlich vor rund fünf Jahren in der amerikanischen Wirtschaft.
Der erste Growth Hack ist jedoch schon viel älter. Vor mittlerweile fast 20 Jahren, 1996, überlegte man bei Hotmail, einem Anbieter kostenloser E-Mail-Adressen, wie neue Nutzer generiert werden können, ohne das Marketing-Budget unnötig zu belasten. Der Dienst hatte damals, einen Monat nach seiner Gründung, bereits 20.000 User.
Um die Freunde, Verwandten und Kollegen der registrierten Nutzer zu erreichen, hängte Hotmail an jede versendete E-Mail den Slogan "Get Your Free Email at Hotmail" an. Der Erfolg war verblüffend. Ein halbes Jahr, nachdem der Dienst an den Start gegangen war, zählte das Unternehmen eine Million Nutzer. Obwohl es den Begriff Growth Hacking noch nicht gab, war es den verantwortlichen Produkt- und Marketing-Managern gelungen, einen solchen durchzuführen.

Auf Definitionssuche

Fast so schwierig wie die Suche nach dem ­Ursprung von Growth Hacking ist der Versuch zu erklären, was das Wort eigentlich bedeutet. Ein erster Schritt ist die Betrachtung der einzelnen Bestandteile. Das englische "growth" bedeutet Wachstum, Anstieg oder Zunahme. Schwieriger zu ­erklären ist, was mit  "to hack" gemeint ist. Die Bedeutungsbandbreite ist gross. "In ­etwas eindringen", und zwar mit Vehemenz und hoher Taktrate, kommt hier der Erklärung wohl am nächsten.
Ein Growth Hacker versucht beispielsweise, die Anzahl der Nutzer eines Produkts möglichst kosteneffizient zu maximieren. Konkret: Der Aufbau einer Fangemeinde soll mit schnellem Wachstum und geringeren Werbeausgaben ermöglicht werden. Anstelle Millionen US-Dollar in Marketing-Kampagnen zu stecken, nutzte der Wohnungsvermittler Airbnb zum Beispiel die Kleinanzeigenplattform "Craigslist", um auf diese Weise bekannter zu werden - Technik und Innovation statt Geld.
"Growth Hacking ist eine Form des Marketings, deren primärer Fokus auf Wachstum liegt. Dabei ist man sich bewusst, dass man zum Teil ein sehr hohes Risiko eingehen muss", erklärt Simon ­Harlinghausen. Er ist Chief Digital Officer (CDO) bei der Media-Agentur Starcom Mediavest Group Germany.
Einen ähnlichen Ansatz wählt auch Claas van Delden, Geschäftsführer der ­Investment-Tochter 7Commerce von Pro Sieben Sat1: "Growth Hacking ist der Teil des Online-Marketings, der nicht unmittelbar direkte Kosten verursacht." Mit seinem Definitionsversuch bringt der Manager zwei Komponenten ins Spiel, die auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen, jedoch letztendlich eine wichtige Rolle spielen.
Zunächst spricht der 7Commerce-Geschäftsführer davon, dass Growth ­Hacking lediglich ein Teil des Online-Marketings ist und sagt somit, dass es sich dabei nicht um eine eigene Disziplin handelt. Er betont damit, dass sich die Methoden des Growth Hacking nicht essenziell von denen des Online-Marketings unterscheiden. Im Gegenteil: Growth Hacking setzt mit Social Media, Suchmaschinen­optimierung (SEO), Suchmaschinenmarketing (SEM) oder E-Mail-Marketing sogar explizit auf Online-Marketing-Kanäle.
Der entscheidende Unterschied zwischen Growth Hacking und Online-Marketing liegt allerdings in der Herangehensweise. Growth Hacking ist ganz wesentlich auf Kosteneffizienz ausgerichtet: Die oben genannten Kanäle sind mit keinem oder zumindest einem geringeren Geldaufwand bespielbar als beispielsweise klassische TV- oder Out-of-Home-Werbung und sorgen trotzdem für viel Reichweite.
"Alles findet unter der Prämisse der ­Super-Performance statt", fasst Harlinghausen zusammen. Und neben der Kosten­effizenz haben Facebook, Youtube und Co. noch einen - ganz elementaren - Effekt zu bieten: die Viralität. Durch die grosse Nutzerzahl und die integrierten Sharing-Funktionen ermög­lichen es die sozialen Netzwerke, schnell eine Vielzahl an potenziellen Zielgruppen für Botschaften zu ­erreichen.
Ein häufiges Missverständnis in diesem Zusammenhang ist, dass Growth Hacking nicht nur mit wenig Geld betrieben werden kann, sondern auch wenig Zeit aufgebracht werden muss. Ein Trugschluss. Das zeigt auch die Erfahrung von Lennarz: "Marketing kostet immer etwas, selbst wenn es nur Zeit ist. Ohne ausreichend Zeit zum Testen und Optimieren funktionieren nur die wenigsten Growth Hacks."

Interne Voraussetzungen

Trotz des erwähnten Einwands wird deutlich, dass Growth Hacking für eine bestimmte Unternehmensform besonders interessant ist: Start-ups. Sie sind klein, agil und haben häufig kürzere Entscheidungswege als etablierte Unternehmen. Ausserdem sind "Unicorns", also Jung­unternehmen, die eine Unternehmens­bewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar erreicht haben, in Deutschland eine Seltenheit.
Nur Rocket Internet, ­Zalando, Home24 und Delivery Hero dürfen sich hierzulande zu diesem elitären Verein zählen. Das ist sicherlich ein Grund dafür, dass Growth Hacking nur wenigen Marketing-Entscheidern und Firmenvorständen in Deutschland ein Begriff ist. Es wird zwar grundsätzlich anerkannt, dass Growth Hacking wichtig ist, doch kaum jemand hat sich damit eingehend beschäftigt.
Die Gründer und Geschäftsführer in der Bundesrepublik sind noch voll und ganz mit der Umsetzung von Content-Marketing, dem letzten Trend, beschäftigt. "Bei Entscheidern, die grosse Marketing-Etats verwalten - also beispielsweise in der ­Finanzbranche oder bei grossen Retailern - wird der Begriff Growth Hacking initial überhaupt nicht verwendet", so Alexander Geissenberger, SEO-Experte und Geschäftsführer der digitalen Marketingagentur Xpose360 aus Augsburg.
Das Thema habe lediglich bei einem niedrigen, einstelligen Prozentsatz Anklang gefunden, sagt der Manager. Damit steht er in der Branche nicht allein da. Um die Basis für Growth Hacking zu schaffen, ist es in einem ersten Schritt wichtig, ein Team aufzubauen. Jedem Growth Hacker sollte ausreichend Spielraum und Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden, darüber hinaus ist auch gegenseitige Kontrolle entscheidend.
Eine weitere Voraussetzung ist eine ­agile Produktentwicklung, die auf Spontaneität beruht. Firmen, die langfristige, teils mehrjährige Marketing-Pläne verfolgen, fällt es nicht leicht, spontan und dynamisch auf den Markt zu reagieren. Dies ist jedoch die Bedingung, um auf virale Trends aufspringen zu können. Ein Unternehmer, der seinem Social-Media-Manager am Wochenende freigibt, hat das Prinzip Internet nicht verstanden. Ein entsprechendes Grundverständis ist auch für Growth Hacking nötig.

Hochwertiger Content

Obwohl Growth Hacking prinzipiell für viele Unternehmen interessant ist, stellt sich die Frage: Ergibt es Sinn, einfach blind dem Hype zu folgen, einen Growth Hacker anzustellen, ohne darüber nachzudenken? Die klare Antwort darauf lautet: Nein. Bevor ein Unternehmen damit beginnt, die Anzahl derjenigen zu steigern, die sich mit seinem Produkt auseinandersetzen, muss es dafür sorgen, dass der Content, den es anbietet, qualitativ hochwertig ist und das Potenzial hat, im Internet weiterverbreitet zu werden.
An diesem Punkt würde auch 7Commerce-Geschäftsführer van Delden ansetzen. Seine erste Frage lautet deshalb: "Hat das Produkt eingebaute virale Features?" Dazu zählen auch Social Sharing Buttons, wie sie bereits in zahlreichen Online-Shops und bei Publishern integriert sind. Wer heute bei Amazon ein Produkt kauft, wird häufig dazu aufgefordert, es den Freunden auf Facebook mitzuteilen. Wie sinnvoll das bei einem Staubsauger ist, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt.
Der Inhalt, der beworben werden soll, ist von grosser Bedeutung, weil er die Basis für den Erfolg von Growth Hacking ist. Gleichzeitig ist er aber auch das Ziel der Kampagne. Die Ergebnisse des Growth Hacking haben eine grosse Auswirkung auf das Produkt als solches. Doch wie wichtig dieser Punkt ist, verkennen viele Entscheider. "Es gibt leider viel zu wenig Unternehmen, die verstehen, dass das Feedback und die Daten, die man generiert, für die Weiterentwicklung eines Produkts ausschlaggebend sind", klagt deswegen auch Harlinghausen.

Die Rolle des Fernsehens

Wer Beispiele für Growth Hacks sucht, die zu erfolgreichen Rückschlüssen aus dem Verhalten der Nutzer geführt haben, muss nur seinen Browser öffnen. Twitter ist ein prominenter Vertreter. Als man beim Kurznachrichtendienst bemerkte, dass viele Nutzer, die sich registriert hatten, nur geringe Interaktionsraten hatten, beschloss man, den neuen Nutzern bei der Anmeldung direkt Personen vorzuschlagen, die für sie interessant sein können.
Der Erfolg trat sofort ein und zeigt zudem erneut, welch grosse Rolle der viralen Komponente zukommt. Dadurch dass sich die neuen Twitter-User bereits zu ­Beginn vernetzen, entstehen neue Verknüpfungen in der Community, die den Weiterverbreitungsfaktor massiv erhöhen.
Firmen wie Airbnb, Tripadvisor oder auch Parship haben klargemacht, dass durch den Einsatz von Growth Hacking samt seinen viralen Instrumenten schnell Wachstum generiert werden kann. Umso eigenartiger erscheint es im ersten Moment, dass diese digitalen Vorreiter klassische TV-Werbung schalten. Warum setzt Airbnb, das bereits den Durchbruch geschafft hat, auf teure Werbebotschaften im Fernsehen?
Darauf gibt es zwei Antworten: Naheliegend ist sicherlich, dass nun das Geld vorhanden ist für Investitionen. Schliesslich lässt sich nicht bestreiten, dass die Reichweite im TV ungebrochen hoch ist. Die zweite Möglichkeit ist die Ansprache einer Zielgruppe. Wer im Netz bekannt ist, erreicht tendenziell ein jüngeres, technik-­affineres Publikum.
Da viele Dienstleistungen wie die Partnervermittlung bei Parship oder die Wohnungsvermittlung bei Airbnb auch für die Generation "50 plus" interessant sind, können über die Fernsehbildschirme nochmals neue Nutzer gewonnen werden, das Produkt kann so in neue Dimensionen gehoben werden.
Je nach vertriebenem Produkt können ­sogar "Media for Equity"- oder "Media for Revenue"-Deals als Methode beim Growth Hacking angewandt werden. Das heisst, dass eine Firma für Media-Leistungen entweder Unternehmensanteile (Equity) oder Umsatzanteile (Revenue) an den Investor abgibt.
Ein Start-up, das diese besondere Variante des Growth Hacking auswählt, sollte  im Voraus festlegen, wie viele Anteile am Unternehmen es abgibt - in Relation zum erwartenden Effekt der TV-Werbung. Das zeigt, ob sich der Aufwand lohnt. Hilfreich kann ein solcher Deal für Firmen sein, die "an einer Stelle sind, an der es entweder nur noch mit Vollgas nach vorne geht oder das Projekt abgebrochen wird", meint SEO-Spezialist Geissenberger.
Und auch Trusted-Shops-Growth-Manager Lennarz würde "Media for Equity" durchaus als Growth Hack betrachten. ­Allerdings sei der Aufwand für diese Art des Wachstumsschubs zeit- und personalaufwendiger als andere Formen.

Fokus auf dem Nutzer

Hat sich ein Unternehmen, sei es ein aufstrebendes Start-up oder eine Branchengrösse mit Erfahrung, dafür entschieden, seine Wachstumsstrategie auf Growth Hacks aufzubauen, gilt es noch, die passende Person dafür zu finden. 
Eine Aufgabe, die vom Personaler ein gutes Gespür verlangt. Schliesslich ist er auf der Suche nach einer Person, die ­sowohl den Umgang mit den Führungspersönlichkeiten eines Unternehmens ­gewohnt ist als auch im Team Entscheidungen durchdrücken kann.
Durchsetzungsvermögen ist also im gleichen Masse gefordert wie Kreativität, fachliches Know-how und Entrepreneur-Dasein. Abschliessend muss der zukünftige Growth Hacker für Hendrik Lennarz auch noch "eine 100-prozentige Leidenschaft für sein ­Produkt entwickeln".
Als K.o.-Kriterium erweist sich aber etwas ganz anderes, obwohl es so simpel klingt: "Solange die Unternehmen nicht verstanden haben, dass der Nutzer im Vordergrund steht, funktioniert auch kein Growth ­Hacking", schliesst CDO Harlinghausen.
Damit rückt er den Endverbraucher in den Fokus der Marketing-Manager. Dass diesen bewusst wird, dass nicht nur das eigene Produkt wichtig ist für erfolgreiches Growth Hacking, sondern auch die Menschen, die es weiterverbreiten, bleibt zu hoffen.



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