Wie Temu geschickt negative Bewertungen vermeidet

Die Versandverpackung, ein in greller oranger Farbe gehaltener Plastikbeutel mit Temu-Branding, ist kaum aufgerissen, da breitet sich ein extrem unangenehmer, beissender Gestank im Zimmer aus. Es dauert eine Weile, dann ist der Schuldige identifiziert: ein (angeblich) aus Holz gefertigter Schreibtisch-Organizer zum Zusammenstecken. Das Material scheint eher ein Verbundstoff mit Furnierfolie zu sein, was genau den Gestank verursacht, kann ich nicht identifizieren.

Ich beschliesse, den Artikel zum Auslüften in den Garten zu befördern. Erster Geruchstest am nächsten Morgen erübrigt sich, weil ich gefragt werde, was so in unserer Einfahrt stinkt. Die Einfahrt ist später nur noch mit einem Hauch des seltsamen Geruchs versehen, sobald ich den Organizer in die Hand nehme, bohrt sich der Gestank aber wieder beissend in meine Nase. 

Wir fahren in den Urlaub. Der Organizer steht einsam im Garten. 

Als ich nach knapp zwei Wochen im Garten nach dem beinahe in Vergessenheit geratenen Übel in holz-ähnlicher Ausführung suche, führt mich meine Nase schnell zum neuen Standort.

Es reicht. Zeit, den Rückgabeprozess von Temu zu erproben. Aber vorher warne ich noch andere Kunden vor dem furchtbaren Ding, indem ich eine Rezension schreibe.

Ich öffne in der Temu-App meinen Account unter dem Button "You", wo mich prominent platziert der Bereich "Your Reviews" daran erinnert, dass ich noch 18 Reviews abzugeben habe.

Ich wähle das Produkt, schreibe eine negative 1-Sterne-Bewertung und drücke auf "absenden".

Dann passiert Folgendes:

Ein Fenster öffnet sich und drei Optionen bieten sich mir an.

1. Request refund (Erstattung anfordern)
2. Temu customer service (Kundenservice)
3. Continue to submit (Fortfahren)

Ich drücke auf Temu customer service und ein KI-Chatbot wird gestartet. Mehrere Standardoptionen werden geboten, darunter erneut "Erstattung anfordern", ich entscheide mich für "I have other questions". Und teile mit: "Ich habe etwas gekauft, das zu unsicher zum Benutzen zu sein scheint."

Der Chatbot nimmt das kommentarlos, aber entschuldigend zur Kenntnis und ich erhalte automatisiert eine Erstattung, ohne den Artikel zurücksenden zu müssen.

Danach will ich schauen, ob meine negative Rezension veröffentlicht wurde. Ich finde sie nicht und vermute, dass sie erst noch geprüft werden könnte.

Um das abzukürzen: Es gibt meine negative Rezension nicht. Sie ist nie angekommen.

Nur wenn ein Kunde statt "Erstattung anfordern" oder "Temu Kundenservice" auf "Fortfahren" drückt, wird die negative Rezension veröffentlicht. Bei den beiden anderen, von den meisten NutzerInnen gewählten Optionen, wird die negative Rezension sofort verworfen.

Jetzt bin ich neugierig geworden und versuche erneut über den Menüpunkt "Your Reviews - Deine Bewertungen" eine negative Bewertung zu hinterlassen. Doch siehe da: Der Artikel wurde unmittelbar nach der Erstattung aus der Liste der zu rezensierenden Artikel entfernt. 

Möchte ich jetzt noch rezensieren, muss ich den Artikel in der ursprünglichen Bestellung suchen. Da muss die Motivation bei den KundInnen schon hoch sein, um sich diese Mühe zu machen.

Negative Rezensionen aufzufinden, ist auf Temu übrigens auch nicht einfach. Die "empfohlenen Bewertungen" sind positiv und das anscheinend auf Machine Learning basierende Schlagwort-Tool bringt auch nur Positives hervor. Die negativen Rezensionen finden sich nach etwas Herumgeklicke, aber die müssen KundInnen schon wirklich finden wollen.

Ein realistisches Abbild der Produktqualität erhalten KundInnen so nicht.