"Online-Handel ist nichts für Warmduscher"
Disruption in Harmonie ist schwerlich möglich
Mythos Harmonie: Die Angst vor Konflikten führt zum Mythos, die digitale Neuausrichtung nur in Harmonie erreichen zu können. Kooperative E-Commerce-Geschäftsmodelle stellen allerdings ein Risiko dar: Gelangen Verbundgruppen aufgrund der zu starken Einbindung der Mitgliedsfirmen zu einer Kompromisslösung, ist dieses schnell kontraproduktiv. Denn nicht die Kritik der Händler ist das grösste Risiko, sondern vielmehr der faule Kompromiss, zu dem Anbieter aus Rücksicht auf Kunden gelangen. Aber auch auf Mitarbeiterseite bremsen Gewerkschafts- und Betriebsratsandrohungen die digitale Transformation. Gross ist zudem die Angst vor einer Kulturveränderung: Traditionelle Handelskonzerne werden oft hierarchisch und konservativ geführt. Damit fällt es ihnen allerdings immer schwerer, an hochqualifizierte Absolventen heranzukommen, die sie vor allem für die digitale Transformation benötigen. High Potentials, die im E-Commerce Karriere machen wollen, suchen ihre Erfahrungen lieber bei Online-Händlern wie Amazon, Zooplus oder Zalando.
Mythos Outsourcing: Vor allem Multi-Channel-Anbieter (stationär und online), die niemals ihr stationäres Geschäft an Dritte outsourcen würden, tun dies in der Regel mit dem Online-Kanal und wundern sich dann, dass dieser nicht funktioniert. Die bisher gängige Annahme, dass in jedem Fall Outsourcing-Lösungen vorzuziehen sind, kann schnell in die Renditefalle führen. Denn mit variablen Vergütungsmodellen sind eigentlich keine Skalierungseffekte erzielbar. Oberstes Gebot sollte insofern flexible Vertragsgestaltung mit kurzfristigen Ausstiegsmöglichkeiten sein. Zudem sollte genau bekannt sein, welches die wettbewerbsrelevanten Kernkompetenzen der E-Commerce-Aktivitäten sind, und zwar ohne Berücksichtigung der bisherigen Kernkompetenzen im Traditionsgeschäft. Mittlerweile ist unstrittig, dass ein Mindestmass an Insourcing zur Profitabilität notwendig ist. Vor allem ist es erforderlich, neue digitale Kompetenzen in eigenen schlagkräftigen E-Commerce-Organisationen schnellstmöglich aufzubauen, die alle notwendigen Funktionalitäten und dabei vor allem auch Sourcing und Einkauf professionell abbilden.
Mythos Online-Wachstum: Wer wachsen will, sollte einen Online Pure Play (reinen Internet-Shop) gründen. Wer aber die Existenz seines bisherigen Stammgeschäftes nachhaltig sicherstellen will, sollte Kunden binden und Umsatz sichern. Losgelöst vom bisherigen Geschäft lässt sich ohne Zweifel das grösste Wachstum mit Online Pure Plays entwickeln: Bei Zalando sitzen zur weiteren Wachstumsgenerierung etwa Hunderte Programmierer im Grossraumbüro und konzentrieren sich auf die Entwicklung der Website. Beteiligungen an solchen Unternehmen, wie von etlichen Traditionsunternehmen mit eigenen Venture-Abteilungen bereits praktiziert, liegen insofern nahe. Sie lösen damit allerdings nicht das Problem des schleichenden Umsatzverfalls in den stationären Absatzkanälen. Der traditionelle Handel muss sich im Zuge der digitalen Transformation quasi neu erfinden und digitales Wissen ins Haus holen. Bezogen auf das bisherige Stammgeschäft, sollte deswegen ein anderes Evolutionsverständnis im Fokus stehen, nämlich aus etwas Bestehendem etwas Besseres zu machen. Und das Bessere sollte zukunftsfähig sein, weswegen es im Hauptfokus der Digitalstrategie liegt und daher neu erfunden werden muss. Das zielt weniger auf Wachstum, als auf Stabilisierung und Existenzsicherung ab.
Mythos Innovation: Anders als im stationären Handel sind online sowohl der Shop-Auftritt als auch die -Funktionalitäten permanent zu aktualisieren. Nichts ist schlimmer im E-Commerce als ein mehrere Jahre unveränderter und damit schnell veralteter Shop-Auftritt. Nicht selten erinnert der Auftritt neuer Online-Shops an die erste Generation von Online-Händlern und ist damit schon bei der Markteinführung veraltet. Der sogenannte Set-up sollte sich kompromisslos an den neuesten Standards orientieren. Auch geht es darum, dem veränderten Nutzungs- und Kaufverhalten der Kunden Rechnung zu tragen: Während die Internetnutzung zu Hause zwar stagnieren mag, explodiert der Gebrauch des mobilen Internets ausser Haus. Tendenz stark steigend, wie auch die Rolle des mobilen Netzes zur generellen Kaufvorbereitung im Laden. Insofern ist hier trotz Online-Auftritt bereits erheblicher innovativer Handlungsbedarf gegeben. Rund 50 Prozent der deutschen Online-Shops sind nicht mobil optimiert.