Kommentar 19.09.2018, 07:06 Uhr

Die fabelhafte Welt der Amazon Storefronts

Mit seinen neuen Händlerportraits gibt sich Amazon betont volksnah und setzt den Fokus auf das Rückgrat seines Marktplatzes - die kleinen und mittelständischen Händler. Das Problem: Die KMUs haben von der meisterhaft inszenierten Marketing-Aktion nur wenig.
Yvi Kersten und Anja Meffert (rechts) von der Manufaktur Liebevoll sind das erste Werbegesicht für die Amazon Storefronts.
(Quelle: Manufaktur Liebevoll)
Amazon ist, legt man die Fülle an aktuellen Medienberichten zugrunde, kein einfaches Pflaster für KMU-Händler: Chinesische Verkäufer verderben durch hinterzogene Umsatzsteuer die Preise, Hacker klauen Daten von US-Händlern, die relevantesten Plätze in den Suchergebnislisten sind fast nur noch gegen Bezahlung zu bekommen und dann pusht Amazon auch noch immer aggressiver seine Eigenmarken und macht Sellern und Vendoren damit gehörig Konkurrenz - bei so viel Druck kann man als Händler schon mal Magengeschwüre bekommen.
Aber zum Glück gibt es seit gestern ja einen Ort, an dem die KMU-Welt noch in Ordnung ist: die Amazon Storefronts. Hier werden kleine Händler aus dem Bilderbuch nach allen Regeln der PR in Szene gesetzt. Sie produzieren sympathische Produkte wie Türschilder und Holzspielzeug oder handgemachte Fackeln aus Beton. Überall prangen Wohlfühl-Prädikate wie "handgemacht", "lokal produziert" oder "nachhaltig" - für die erwähnten Fackeln beispielsweise rührt der Unternehmensinhaber sogar den Beton selbst an. Das ist alles so wahnsinnig nett und sympathisch und so herrlich unglobalisiert, dass man sofort in eines der vorgestellten Fachwerk-Paradiese reisen will, um mit den dort ansässigen Händlern und Händlerinnen eine gepflegte Tasse Tee zu trinken. Oder gemeinsam einen französischen Heile-Welt-Film zu gucken.
Auch wenn die Präsentation auf Amazon Storefronts mitunter so zuckersüss ist, dass man beim Lesen stante pede Karies bekommt: Eigentlich ist die Idee mit den Händlerportraits ja gar nicht so verkehrt. Schliesslich gehören zu den Hauptkritik-Punkten der Marketplace-Händler - auf deren Konto laut Storefronts-Werbespot 50 Prozent der auf Amazon.de verkauften Produkte gehen - die fehlenden Möglichkeiten für eine Abgrenzung gegenüber dem Wettbewerb. Mit den Storefront-Portraits können Händler jetzt zeigen, warum sie anders sind als die Konkurrenz, welche Philosophie sie antreibt, kurz: Sie können im kleinen Rahmen Storytelling und Content Marketing betreiben, statt sich allein über den Preis und die Zahl ihrer Produktbewertungen abzugrenzen. Toll! Wenn die Kunden denn auch was von dem schönen Content mitkriegen würden.

Mangelnde Sichtbarkeit macht Storefronts für Händler in der Praxis nutzlos

Aktuell gibt es nämlich genau einen Weg, wie man auf die Storefronts kommt: Man muss die Pressemeldung gelesen oder den dazu passenden TV-Spot gesehen haben (der im Übrigen in den USA, in Grossbritannien und in Deutschland beinahe gleich aussieht) und die dort kolportierte Webadresse amazon.de/storefronts in die Browserzeile oder ins Google-Suchfenster eintippen. Nur dann gelangt man zu den Händlerportraits.
Auf der Amazon-Startseite konnten wir keinen Hinweis auf den neuen Sub-Shop entdecken. Auch unter den Kategorie-Reitern sind die Storefronts nicht zu finden, nicht mal unter "Alle Kategorien". Und noch unverständlicher: Sogar wenn man über die Suchleiste (oder über Google) gezielt nach einem Händler sucht, der eine Storefront hat, findet man nur dessen Produkte - aber keinen Verweis auf sein Händlerportrait. Lediglich über den Produktdetailseiten des aktuellen Werbegesichts, der Manufaktur Liebevoll aus dem brandenburgischen Erkner, findet sich ein kleiner Hinweis zu ihrer Storefront.
Sollte Amazon an der Sichtbarkeit seiner Storefronts also nicht noch nachbessern, liegt der Schluss nahe, den das britische Online-Portal proactiveinvestors.co.uk gezogen hat: Das neue Feature, so die Kollegen, nütze vornehmlich Amazon selbst. Denn die schön in Szene gesetzten Storefronts würden jene Händler dazu bewegen, ebenfalls auf Amazon zu verkaufen, die bisher vor der Anonymität des Marktplatzes zurückschreckten. Und nebenbei bessern die hübschen Bilder aus familiengeführten Manufakturen das Image des Marktplatzes etwas auf - da vergibt sogar der sonst eher kritische Mark Steier von Wortfilter das Prädikat "nett". Was die mitmachenden Händlern davon haben, ist fraglich - wenn der Kunde die Storefronts aufgrund der schlechten Sichtbarkeit einfach nicht entdeckt (weil er auf der Suche nach einem bestimmten Produkt kaum gezielt nach dem Interview des verkaufenden Händlers suchen dürfte), werden sie als reines Nice-To-Have kaum zum Geschäftserfolg beitragen.
Schade um die eigentlich "nette" (um das Adjektiv endgültig totzureiten) Idee - schliesslich hat Amazon unter anderem mit dem KMU-Förderprogramm "Unternehmer/innen der Zukunft" bereits bewiesen, dass sich PR-Erfolg für Amazon und wirtschaftlicher Erfolg für die als Zugpferd vorgespannten Händler nicht ausschliessen müssen. Mit den Siegern aus dem Förderprogramm platzierte Amazon auch viele positive Berichte in den einschlägigen Medien und Händlergruppen - und produzierte gleichzeitig noch eine ganze Schar an überzeugten Amazon-Jüngern, die von ihrem Geschäftserfolg auf Amazon schwärmen. Angesichts dieses Erfolgs muss man sagen: Die Storefronts hätten vielleicht auch ein bisschen mehr Mühe verdient gehabt.




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