Computerworld vor 30 Jahren
29.12.2020, 10:16 Uhr
Die Schweizer IT im Jahr 1990
Windows sollte in den 1990ern zur dominierenden Software werden. Computerworld Schweiz berichtete von den Vorboten. Und von Konkurrenten, die sich gegen den «Moloch Microsoft» aufstellen wollten.
Erstmals in der Schweizer Informatik wurden 1990 Preise für bemerkenswerte Leistungen vergeben. Verliehen wurden die EDV-Oscars von einem «Informatik Circle» aus Beratern, Fachjournalisten und IT-Unternehmern. Die Computerworld-Redaktoren zählten nicht zum Kreis der Auserwählten. Sie beschränkten sich dann auch auf eine knappe Berichterstattung über die Zeremonie, bei der fünf Preise verliehen wurden. Lesen hier im Artikel, was die Computerworld über diese spannende Zeit schrieb:
Den «Enter»-Oscar als Hauptpreis erhielt die Schweizer WordPerfect-Niederlassung für ihren vorbildlichen Support. Die damals marktführende Textverarbeitung lobpreiste der Schweizer Geschäftsführer François Schluchter in seiner Dankesrede als «beste Software der Welt». Der damals grösste Telekommunikationskonzern der Schweiz, die Solothurner Autophon, erhielt für seine digitale Telefonanlage Ascotel BCS den «Page Up»-Oscar. Er stand für die beste Schweizer Informatik-Innovation. Der «Page Down»-Oscar wurde an die PTT vergeben für das elektronische Telefonbuch, da es nur einem «elitären» Kreis von anfangs 300 Abonnenten zugänglich war. Die Datenbank konnte nicht mehr parallele Zugriffe verarbeiten. Beschränkt war die Berichterstattung über Informatik auch in der «Neue Zürcher Zeitung», weshalb dem Traditionsblatt der «Esc»-Oscar zuerkannt wurde. Den negativen Hauptpreis, den «Crtl-Alt-Del»-Oscar, mussten sich die PTT gefallen lassen – quasi als Bestrafung für den stark subventionierten, aber wenig populären Videotex. Mitte Jahr zählte der millionenteure Dienst genau 50'062 Abonnenten.
Vorboten des Windows-Booms
An der Preisverleihung Anfang April 1990 ging Microsoft noch leer aus. Der Konzern sollte erst knapp zwei Monate später einen heissen Anwärter auf die Schweizer «EDV-Oscars» lancieren: Windows 3.0 wurde am 22. Mai 1990 veröffentlicht. Und bekam gleich massive Aufmerksamkeit von der Fachwelt. Computerworld publizierte im Laufe des Jahres fast 20 grosse Berichte über das neue Betriebssystem – oder streng genommen: die grafische Bedienoberfläche. Sie gefiel den Redaktoren und den Informatik-Verantwortlichen ebenfalls. In einer Umfrage der Beratungsfirma Robertson Stephens gaben beeindruckende 72 Prozent der CIOs an, Windows 3.0 auf bestehenden und neuen Computern installieren zu wollen, berichtete Computerworld.
Parallel mit dem Zuspruch der Anwender stieg die Bereitschaft der Software-Entwickler, Microsofts Lösung zu unterstützen. An der Messe «Comdex» im November 1990 kündigten die grossen Hersteller durch die Bank weg an, Windows-Versionen ihrer Programme vermarkten zu wollen. «Bei 40 Millionen DOS-Systemen auf der Welt gegenüber 4 Millionen Macintosh – wofür werden wir wohl entwickeln?», fragte Ashton-Tate-Präsident Bill Lyons am Rande der Messerhetorisch die Medien. Ashton Tates Datenbankprogramm dBase war während den 1980ern einer der meistverkauften Software-Titel – sowohl für DOS als auch für Mac. Unter anderem die Übernahme durch Borland 1991 verzögerte allerdings die Entwicklung der Windows-Version von dBase, womit die Software an Bedeutung verlor. In der Schweiz preschte die Obag Informatik aus Granges-Paccot vor mit einem Buchhaltungsprogramm für Windows: «Win Finance Plus» mit einem Preisschild von 4550 Franken war Ende 1990 bereits bei «mehreren» Firmen produktiv im Einsatz, berichtete Computerworld.
Der Support für die Anwender kam immer noch aus der Microsoft-Vertretung in München, gestand der frisch ernannte General Manager der schweizerischen Microsoft-Niederlassung, Peter A. C. Blum. Die Telefon-Hotline sollte aber soweit nötig und möglich «eingeschweizert» werden, sodass auch spezifisch schweizerische Probleme – etwa mit Tastaturtreibern – gelöst werden könnten, versprach Blum. Dem Problem der Software-Piraterie wollte er sich allerdings selbst annehmen, obwohl statistisch auf ein verkauftes Produkt in der Schweiz auch ein PC kam. So betonte Blum im Gespräch mit Computerworld dann auch, dass «niemand die Einzelkunden, die Textverarbeitungen füreinen Bekannten kopieren, behelligen wolle». Ihm und seinen Mitarbeitern ging es um Grossabnehmer: In diesem Zusammenhang erwähnte er eine Grossbank, bei der Raubkopien en masse entdeckt worden waren.
Szenen einer Ehe
Microsoft war Anfang der 1990er-Jahre noch eine vergleichsweise kleine Software-Firma. Man hatte zwar mit DOS ein eigenes Betriebssystem, aber auch einen Entwicklungsdeal mit der grossen IBM für OS/2. Dem Gemeinschaftsprojekt wurde in der Informatik-Szene zugetraut, es könnte dereinst DOS/Windows und Unix-Implementierungen ersetzen. Das heisst zu dem werden, zu dem Windows schliesslich wurde: dem marktführenden System für den Personal Computer. Microsofts Erfolg mit Windows wareiner der Gründe, warum OS/2 den Durchbruch nie geschafft hat. Ein anderer Grund war der eminent grosse Hardware-Hunger von OS/2. Schon der erste Release benötigte Ende der 1980er satte 6 Megabyte Hauptspeicher und die neusten Intel-Prozessoren für den flüssigen Betrieb. Die Chip-Hersteller legten zwar schnell neue Halbleiter nach, IBM und Microsoft kamen aber nicht nach mit der Entwicklung von OS/2. So wartete alle Welt auf OS/2 2.0, während Microsoft Windows 3.0 lancierte. Es eliminierte die 640-Kilobyte-Limitationen von DOS halbwegs und liess sich auch auf bezahlbaren Computern ausführen.
Bei IBM wurde die Microsoft-Entwicklung natürlich mit Argwohn beobachtet. Die Pläne, mit OS/2 einen gemeinsamen Nachfolger für DOS lancieren zu wollen, lösten sich über die Jahre in Schall und Rauch auf. Wie Computerworld schrieb, war 1990 noch unklar, wie sich die Ehe zwischen Big Blue und der Gates-Company weiterentwickelt. «Die Wirklichkeit sieht so aus: Beide, OS/2 und Windows, werden in Zukunft immer besser werden. Daran wird sich bis auf Weiteres nichts ändern», kommentierte Lee Reiswig, Vizepräsident Programmierung bei der Entry Systems Division von IBM, die Beziehung zu Microsoft. Damit hatte der Partner und Wettbewerber quasi freie Hand, seine Windows-Pläne weiterzuverfolgen. Während IBM (vorerst) voll auf OS/2 setzte. «Wir wissen noch nicht, ob wir OS/2 zusammen mit Windows anbieten werden», liess sich IBM-Chefstratege James Cannavino von Computerworld zitieren. Einklares Bekenntnis zur Partnerschaft hätte sich anders angehört.
Schon 1991 stieg dann Microsoft aus dem Bündnis aus und konzentrierte sich auf die Weiterentwicklung von Windows zu einem vollwertigen Betriebssystem. Windows NT 3.1 sollte 1993 der erste Schritt sein. Das von IBM 1992 letztendlich alleine lancierte OS/2 2.0 war weiterhin sehr Hardware-hungrig, allerdings auch vergleichsweise leistungsstark. Es krankte allerdings (wie Windows NT) an der anfangs noch fehlenden Unterstützung der Entwickler, das heisst an den wenigen 32-Bit-Anwendungen auf dem Markt.
Gorbatschows Apple
Obwohl als Vorreiter bei den grafischen Bedienoberflächen gestartet, konnte auch Apple mit dem Erfolg von Windows nicht mithalten. Die hohen Hardware-Preise waren ein Hauptgrund, warum der Konzern ein Nischenanbieter blieb. Unter CEO John Sculley wuchs der Apfel-Konzern zwar zum Milliarden-Business heran, einen wirklichen Durchbruchfür die Hardware oder die Software gab es aber nicht. Im Jahr 1990 versuchte Sculley, mit «Billig»-Macs mehr Konsumenten für Apple zu gewinnen. Insbesondere der Macintosh Classic (1500 US-Dollar) erwies sich als Verkaufsschlager, sodass Apple kurzfristig die Fabrikkapazitäten erhöhen musste. Das Modell mit 9-Zoll-Schwarz-Weiss-Display wurde ausserdem im Bildungsbereich gut angenommen – unter anderem wegen der speziell programmierten Schul-Software. Der fast doppelt so teure Macintosh LC (Low-cost Color) zielte ebenfalls auf den Education-Markt, konnte aber nicht an den Erfolg des Classic heranreichen.
Einen treuen Kunden hatte Apple in der damals noch existierenden Sowjetunion. Der letzte Staatspräsident, Michail Gorbatschow, wurde von Apple-CEO Sculley persönlich mit Mac-Computern ausgestattet. Vermutlich allerdings nicht mit den neuen Billig-Rechnern, mutmasste Computerworld. Sowie vermutlich auch nicht auf offiziellem Weg, verbot doch das CoCom-Embargo die Lieferung von Hochtechnologie in den Ostblock. Es wurde erst 1994 aufgelöst. Da waren allerdings Gorbatschow und Sculley längst nicht mehr im Amt.
Passend zur Lancierung der «Billig»-Macintosh veröffentlichte Computerworld 1990 die Zeitschrift «Macworld Schweiz». Ein grosses Thema in der Erstausgabe im Mai war der Test des neu eingeführten «Farbbildverarbeitungsprogramms» Photoshop von Adobe. Aufgrund der vielen Anzeigen sollte sich die PTT Mitte der 1990er-Jahre weigern, die Zeitschrift zur reduzierten Zeitungstaxe zu befördern. Der Verlag klagte und unterlag. Ende des Jahrzehnts kam das Aus für die «Macworld Schweiz».
Die «deutsche IBM»
Das Bündnis zwischen den Traditionskonzernen Siemens und Nixdorf sollte nicht länger halten (bis 1998). Die bisdahin unabhängigen Computer-Hersteller kündigten imJanuar 1990 an, zum grössten europäischen Anbieter für Informatik- und Telekommunikationslösungen fusionieren zu wollen. Computerworld bezifferte den gemeinsamen Umsatz auf 13 Milliarden D-Mark (umgerechnet 11,3 Milliarden Franken), den Marktanteil auf 7,7 Prozent. Nur IBM war grösser, DEC und Olivetti sowie Bull alle kleiner. Da bot es sich für Computerworld an, Siemens Nixdorf Informationssysteme (SNI) als «deutsche IBM» zu betiteln.
Die Übernahme von Nixdorf durch Siemens datierte auf den 1. Oktober 1990 – zwei Tage vor der deutschen Einheit. Und das schon Ende Jahr präsentierte gemeinsame Portfolio – ähnlich wie bei IBM bestand es aus Personalcomputern, Grossrechnern, Industriegeräten und Software-Lösungen – legt den Vergleich durchaus nahe. Der SNI-Vorstandsvorsitzende Hans-Dieter Wiedig wies in der Computerworldallerdings die Absicht weit von sich, es europaweit mit Big Blue aufnehmen zu wollen. In Deutschland könne es dagegen schon ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben, schob er nach.
Für die Schweiz sah SNI eine «bereinigte und ergänzte» PC-Palette vor, wie Marketingleiter Reto Bieler der Computerworld sagte. Das erste Highlight kündigte er für das neue Jahr an: Im Modell «PCD20N» werkelte ein 80286er mit 12 Megahertz. Der gemeinsam mit dem Panasonic-Mutterkonzern Matsushita entwickelte Rechner rundete die Notebook-Palette nach unten ab. Die Nixdorf-Modelle 8810/16 (Intel 80286, 16 Megahertz) und 8810/20 (Intel 80386, 20 Megahertz) vertrieb SNI weiterhin. Neu sollten die Rechner aber vermehrt über den Fachhandel vertrieben werden. Damit folgte die bis anhin «in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbare» SNI den Marktbegleitern IBM, Compaq und Hewlett-Packard, berichtete Computerworld.
Wider dem «Moloch Microsoft»
Bereits gut am Markt etabliert war 1990 der Software-Hersteller Lotus. Das Unternehmen hatte erst im Jahr zuvor in Regensdorf eine Schweizer Niederlassung gegründet und war Marktführer bei Tabellenkalkulationsprogrammen. Als Standard ging Lotus 1-2-3 für etwas unter 1000 Franken über den Verkaufstresen. Abseits dieser Nische fehlte aber der grosse Verkaufsschlager – denn Lotus Notes war 1989 gerade fertig entwickelt worden.
Für den damaligen CEO Jim Manzi bot es sich angesichts der wachsenden Konkurrenz durch Microsoft an, nacheinem starken Partner zu suchen. Computerworld berichtete im April 1990 von Fusionsplänen zwischen Lotus und Novell. Beide Marktführer glaubten, dem «Moloch Microsoft» gemeinsam besser Paroli bieten zu können, schrieb Computerworld. Das Marktforschungsinstitut IDC glaubte ihnen: «Die Fusion ändert das Marktgefüge in der PC-Software-Industrie», sagten die Analysten. Die gemeinsamen Umsätze von Lotus und Novell im Jahr 1989 betrugen 978 Millionen US-Dollar. Bei Microsoft waren es 952 Millionen.
Einige Monate später sollte eine Schlammschlacht um den Verwaltungsrat über Lotus-Novell entscheiden. Die kleinere Lotus beanspruchte vier Sitze für sich, der grösseren Novell wurden nur drei zugestanden. Zudem sollte Novell-Verwaltungsrat Raymond Noorda «nur» der CEO der Novell-Produktlinie werden, während Lotus-Chef Manzi der designierte Vorsitzende, Präsident und CEO war. Noorda war es schliesslich, der die Fusion platzen liess: Seiner Ansicht nach sollten Führungspositionen nicht zugeschrieben, sondern verdient werden. Manzi erwiderte: «Wir haben viel Geld und Zeit vergeudet, weil wir mit Menschen gesprochen haben, die offenbar nicht wissen, was sie wollen.» Denn die Initiative für den Merger sei von Noorda ausgegangen, doppelte er nach. Computerworld berichtete nach dem Scheitern der Fusion von einem lachenden Dritten: Die Aktien von Microsoft erreichten ein neues Rekordhoch.
Erster Web-Server am Netz
Steve Jobs’ NeXT war 1990 noch im Wachstum begriffen, allerdings auf bescheidenem Niveau. In den zwei Jahren seit der Lancierung waren knapp 7000 NeXT-Computer verkauft worden, so Computerworld. Im neuen Jahrzehnt wollte Jobs nun durchstarten: Die Produktpalette wurdeerweitert, die Unterstützung durch Software-Hersteller verbessert und das Vertriebsgebiet vergrössert.
Die neuen «NeXTcube» und «NeXTstation» besasseneinen Motorola-Prozessor (68040, 32 Bit) mit einer Taktung von 25 Megahertz. Damit verdreifachte sich die Arbeitsgeschwindigkeit im Vergleich zum Ur-NeXT. Der Hersteller verzichtete aus Gründen der Benutzbarkeit auf das magneto-optische Wechsellaufwerk. Denn hier konnten die Medien nur dann getauscht werden, wenn der Rechner ausgeschaltet war. Stattdessen setzte NeXT als erster Hersteller überhaupt auf die CD-ROM. Und auf ein Floppy-Laufwerk.
Die Software kam weiterhin auf Disketten daher: Mathematica blieb eine Standardbeigabe für jeden NeXT. Neu kündigten unter anderem die Branchenleader Informix die Tabellenkalkulation «Wingz», Lotus Development sein Konkurrenzprodukt «1-2-3» und WordPerfect die gleichnamige Textverarbeitung für das NeXT-Betriebssystem an. Später sollte auch die Vektorgrafik-Software «Virtuoso» von Altsys noch portiert werden. Die wichtigsten Anwendungen fürdie NeXT-Rechner blieben Programmierumgebungen und wissenschaftliche Software.
Einen neuen Vertriebsmarkt wollte sich Jobs in Europa erschliessen, nachdem die NeXT-Modelle bis anhin ausschliesslich in den Vereinigen Staaten verkauft wurden. In den Plänen des Gründers spielte die Schweiz eine entscheidende Rolle: Sie war das erste Land mit einer offiziellen Vertretung. Die Klotener Firma Workstation bekam den Zuschlag, berichtete Computerworld im Mai 1990. «Sie liessen im Wettbewerb für den NeXT-Wiederverkauf potentere Bewerber vor allem aus dem Basler Raum hinter sich», kommentierte Michael Kronenberger als Gründer der Schweizer Gesellschaft für NeXT-Entwickler. Er hatte schon vor dem Handkuss für Workstation seinen NeXT-Würfel importiert. Tim Berners-Lee in Genf ebenfalls. Am 12. November 1990 reichte er am CERN das Konzept für ein Hypertext-Projekt ein, das er auf einem Ur-NeXT entwickelt hatte. Dieser Rechner sollte der erste Web-Server werden. Darüber berichtete Computerworld 1990 allerdings nicht.