USA gibt Kontrolle über das Web ab
05.12.2016, 11:36 Uhr
Wem gehört das Internet?
Am 30. September 2016 endete offiziell die Aufsicht der USA über die Internet-Verwaltung ICANN. Doch der US-Einfluss auf das Domain Name System wird auch weiterhin bestehen bleiben.
Am 30. September 2016 geschah etwas, wovor Ted Cruz seit Monaten gewarnt hatte: Die USA gaben ihre Kontrolle über das Domain Name System auf. Der Republikaner Cruz, der im US-Senat den Bundesstaat Texas vertritt, wollte diesen Schritt verhindern. Er hatte im Frühjahr eigens eine Website ins Netz gestellt, die unter dem Slogan "Der Kampf für die Freiheit endet nie" eine Countdown-Anzeige präsentierte.
Die Seite gibt es immer noch. Doch der Zähler steht auf null.
Die IANA-Funktion sichert den Betrieb des Internets
"Lasst Obama nicht das Internet verschenken“, mit diesem markigen Slogan hatte der als ultrakonservativ geltende Senator Wahlkampf gemacht, auch nachdem er im Sommer gegen Donald Trump unterlegen und aus dem Rennen um die US-Präsidentschaft ausgeschieden war. Die Sache, die Cruz umtrieb, wirkt unscheinbar, ist aber von entscheidender Bedeutung für die Architektur des Internets: die sogenannte IANA-Funktion.
"IANA" steht für "Internet Assigned Numbers Authority“. Dahinter verbirgt sich eine Organisation, die im Internet IP-Adressen zuweist und die korrekte Zuordnung von Domains überwacht. Ohne die IANA funktioniert das bereits erwähnte Domain Name System (DNS) nicht. Die IANA-Funktion stellt sicher, dass die Eingabe einer bestimmten URL in einem Webbrowser dazu führt, dass der richtige Server einen Befehl bekommt, die zur URL passende Website auszuliefern, und dass nicht zwei Webserver dieselbe IP-Adresse haben.
Bis in die 1990er-Jahre hinein bestand die IANA aus einem Mann: Jonathan "Jon“ Postel, einem Informatiker, der seit Ende der 1960er-Jahre erst an der University of California in Los Angeles (UCLA) und später an der University of Southern California (USC) die Verteilung der IP-Adressen im noch jungen Internet koordinierte. Ausserdem war Postel der RFC Editor. Ein RFC ist ein Dokument, das eine Verfahrensweise oder einen Standard im Internet festlegt. RFCs sind so etwas wie die DIN-Normen des Internets, und allein Postel hat rund 200 davon verfasst.
Bill Clinton und das Internet
Die IANA-Funktion übte Postel auf Basis eines Vertrags mit der DARPA aus, der Forschungsbehörde des US-Verteidigungsministeriums. Kurz gesagt: Vor zwanzig Jahren war der Vollbarttäger der Herrscher über das Internet. Wer eine IP-Adresse brauchte oder wollte, dass seine Domain konnektiert wurde, kam an ihm und IANA nicht vorbei. Am 16. Oktober 1998 starb Postel nach einer Herzoperation.
Es war US-Präsident Bill Clinton, der die Bedeutung des Internets für die Privatwirtschaft entdeckte und aus dem einstmals militärischen Projekt endgültig ein ziviles machen wollte: Clinton regte 1998 die Gründung der ICANN an, der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers. Diese Organisation sollte das Domain Name System verwalten, dessen Server sich damals noch alle auf dem US-Festland befanden.
Ausserdem sollte sie die IANA-Funktion übernehmen. Die Kontrolle wollte Clinton nicht aus der Hand geben: Die Aufgaben der Internet-Verwaltung, vor allem bezüglich der IANA-Funktion, regelte ein Vertrag mit der National Telecommunications and Information Administration (NTIA), einer Unterabteilung des US-Wirtschaftsministeriums. Und genau dieser Vertrag ist am 30. September 2016 ausgelaufen.
Dass die USA die Kontrolle über das Internet aufgeben, erstaunt auf den ersten Blick, schliesslich ist das Internet de facto US-Hoheitsgebiet: Die wichtigsten IT-Unternehmen der Welt sitzen in den USA, Windows, Android, iOS und andere relevante Softwareplattformen wurden in Amerika ersonnen.
Die USA sind im Internet so dominant, dass sie im Domain-System noch nicht einmal eine eigene Länderkennung brauchen. Zwar bekamen die Vereinigten Staaten 1985 die Top-Level-Domain .us zugeteilt - doch diese Domain-Endung fristet bis heute ein Schattendasein. Als Domain für Amerika gilt .com (für "commercial") - mit rund 16 Millionen Adressen bis heute die meistregistrierte Domain im Web.
Ritterschlag für das Multi-Stakeholder-Modell
Der Verzicht der Obama-Regierung auf eine erneute Verlängerung des Vertrags über die IANA-Kontrolle bedeutet für die Internet-Verwaltung ICANN den Ritterschlag. Seit seiner Gründung verfolgt das Non-Profit-Unternehmen das sogenannte Multi-Stakeholder-Modell. Der Ansatz: Die Belange des Internets sollen nicht von Staaten reguliert, sondern von Interessenvertretern (Stakeholders) im Konsens entschieden werden.
Eigentlich könnte die ICANN auch den Vereinten Nationen unterstellt werden - doch dieser Organisation unterwerfen sich die USA nur sehr ungern. Das Multi-Stakeholder-Modell stellt deshalb ganz klar eine Alternative zu einer UN-Kontrolle dar. Wenn in der ICANN Beschlüsse gefasst werden, dann sind zehn verschiedene Stakeholder-Organisationen mit von der Partie. Die Spannbreite reicht von der Address Supporting Organisation (ASO), in der die Registries aller Domains vertreten sind, bis zur At-Large-Gruppe, in der ein 15-köpfiges Gremium die Belange der User weltweit vertritt. Die Interessen nationaler Regierungen werden durch das Government Advisory Committee (GAC) repräsentiert.
Grösste nationale Nutzer-Community ist in China
Schon lange bestand die Forderung der Staatengemeinschaft, die USA möge ihre Sonderrolle aufgeben, zumal das Internet das US-Festland längst hinter sich gelassen hat. Die Infrastruktur des DNS-Servernetzwerks ist inzwischen über den gesamten Erdball verteilt, die grösste nationale Nutzer-Community sitzt mittlerweile in China. Die ICANN residiert zwar auch nach ihrem Umzug in ein neues Gebäude im Jahr 2012 immer noch in Kalifornien, aber ICANN-Meetings finden überall auf der Welt statt - das letzte Anfang November im indischen Hyderabad.
Die US-Regierung hatte jedoch seit dem Jahr 2000 immer wieder eine Verlängerung des Vertrags zwischen ICANN und NTIA durchsetzen können, mit Hinweis darauf, dass die ICANN mit ihrem Multi-Stakeholder-Modell noch nicht so weit sei, tatsächlich alle Interessen im Internet gleichermassen zu berücksichtigen. Die letzte Verlängerung liegt indes neun Jahre zurück. Für den texanischen Senator Cruz ist damit der Weg frei, dass undemokratische Regimes wie Russland oder China die Freiheit des Internets beschneiden könnten.
Ein Blick auf die Organisationsstruktur des Internets zeigt jedoch, dass auch nach Auslaufen des Vertrages über die IANA-Funktion der Einfluss der USA auf das Netz erheblich sein wird. So unterhält die ISOC (Internet Society) neben einem Sitz in Genf auch einen in Reston, Virginia, in unmittelbarer Nähe zur .com- und .net-Registry Verisign. Auch die Internet Engineering Task Force (IETF), in der nahezu alle technischen Netzwerkstandards ersonnen, fixiert und somit verbindlich festgelegt werden, hat ihre Zentrale in den USA. Letztlich ist der US-Einfluss weniger eine Macht- als eine Ressourcenfrage. Solange die Westküste der USA die Wiege der meisten Online-Entwicklungen ist, wird sich daran auch nichts ändern.
Dafür spricht auch eine bemerkenswerte personelle Kontinuität bei den Schlüsselpositionen. Der inzwischen in den Adelsstand beförderte Brite Tim Berners-Lee, der 1985 am Schweizer Forschungszentrum CERN das World Wide Web erfand, wacht bis heute über dessen Regelwerk: Er steht dem World Wide Web Consortium (W3C) vor, und dieses Gremium entscheidet darüber, welche technischen Standards im World Wide Web als akzeptiert gelten und welche nicht.
Auch Vinton C. "Vint" Cerf, einer der Geburtshelfer des Internets, ist nach wie vor mit von der Partie. Der im US-Bundesstaat Connecticut geborene Informatiker war bereits am Aufbau des Internet-Vorläufers Arpanet beteiligt. Mitte der 1970er-Jahre entwickelte Cerf mit dem TCP/IP-Protokoll das technische Rückgrat des Internets. Cerf gründete auch die Internet Society und war von 1992 bis 1995 ihr Vorsitzender. Bis 2007 war er Chef der ICANN. Und während andere in seinem Alter Rosen züchten, bekleidet der heute 73-Jährige eine Position als "Chief Internet Evangelist" bei Google - und hilft dem Konzern dabei, seine Interessen im Internet zu wahren.
Skandal um .web-Domain
Dass der Einfluss der alten Garde nicht zu unterschätzen ist, zeigt auch ein aktueller Fall: die New Top Level Domain .web. Sie gehört zu den Hunderten neuer Domain-Endungen, um deren Einführung und Verwaltung sich Organisationen und Firmen aus aller Welt seit Jahren bewerben. .web gilt als TLD mit Potenzial: Sie könnte sich zu einer Alternative zu .com entwickeln, der Internet-Domain schlechthin. Zahlreiche Firmen, darunter auch United-Internet aus Starnberg, bewarben sich darum, .web als Registry verwalten und vermarkten zu dürfen. Verisign, als Registry von .com und .net ein echtes Domain-Schwergewicht, sollte explizit nicht zum Zuge kommen - schliesslich bringt allein die .com-Domain Verisign pro Jahr über eine Milliarde US-Dollar ein.
Nachdem sich die Bewerber nicht einigen konnten, versteigerte ICANN die Rechte an .web zum Höchstgebot. Den Zuschlag bekam - für sagenhafte 135 Millionen US-Dollar - der weithin unbekannte Player Nu Dot Co. Wie sich im Nachhinein herausstellte, steckte dahinter Verisign, das Unternehmen zahlt 130 der 135 Millionen US-Dollar. Ob dieser Deal gegen die Regeln verstiess, war auf dem jüngsten ICANN-Meeting in Hyderabad eines der besonders heiss diskutierten Themen.
"ICANN will nicht Weltregierung sein"
Philipp Grabensee, Strafverteidiger und Mitbegründer der .info-Registry Afilias
Die USA haben sich jetzt offiziell endgültig aus der Kontrolle über das Internet zurückgezogen. Warum?
Philipp Grabensee: Die USA haben sich immer für ein freies und offenes Internet eingesetzt und das Multi-Stakeholder-Modell der ICANN unterstützt. Die ICANN setzt auf Konsensentscheidungen, sie will nicht die Weltregierung sein.
Philipp Grabensee: Die USA haben sich immer für ein freies und offenes Internet eingesetzt und das Multi-Stakeholder-Modell der ICANN unterstützt. Die ICANN setzt auf Konsensentscheidungen, sie will nicht die Weltregierung sein.
Dennoch verwundert es, dass die USA dieses Terrain kampflos räumen.
Grabensee: Die USA hat zugesagt sich zurückzuziehen, sobald das Multi-Stakeholder-Modell der ICANN zeigt, dass es arbeitsfähig ist. Ausserdem hat das Ansehen der USA sehr unter der Snowden-Affäre gelitten.
Grabensee: Die USA hat zugesagt sich zurückzuziehen, sobald das Multi-Stakeholder-Modell der ICANN zeigt, dass es arbeitsfähig ist. Ausserdem hat das Ansehen der USA sehr unter der Snowden-Affäre gelitten.
Und, ist das Organisationsmodell der ICANN schon so weit?
Grabensee: Auf dem ICANN-Meeting in Hyderabad gab es heftige Diskussionen um die Vergabe der .web-Domain an den Bieter Nu Dot Co, hinter dem offensichtlich Verisign steht. Afilias und andere Unternehmen hatten sich ebenfalls an der Auktion beteiligt, und wir sehen in dem Eingreifen von Verisign ein Verstoss gegen die ICANN-Guidelines. Deshalb haben wir Beschwerde gegen das Verfahren eingelegt. Wie die ICANN das Verfahren jetzt weiter betreibt, das wird sicherlich auch eine Bewährungsprobe dafür, wie unabhängig und überparteilich diese Organisation wirklich ist.
Grabensee: Auf dem ICANN-Meeting in Hyderabad gab es heftige Diskussionen um die Vergabe der .web-Domain an den Bieter Nu Dot Co, hinter dem offensichtlich Verisign steht. Afilias und andere Unternehmen hatten sich ebenfalls an der Auktion beteiligt, und wir sehen in dem Eingreifen von Verisign ein Verstoss gegen die ICANN-Guidelines. Deshalb haben wir Beschwerde gegen das Verfahren eingelegt. Wie die ICANN das Verfahren jetzt weiter betreibt, das wird sicherlich auch eine Bewährungsprobe dafür, wie unabhängig und überparteilich diese Organisation wirklich ist.