Digitalisierung 16.01.2023, 10:42 Uhr

Digitale Zwillinge erreichen die Fabrikhallen

Die Bedeutung digitaler Zwillinge in der Industrie nimmt rapide zu. Erste Unternehmen nutzen virtuelle Abbilder, um Autos, Impfstoffe oder Kreuzfahrtschiffe effizienter zu entwickeln.
(Quelle: Shutterstock / Wright Studio)
Die Reisebranche gehörte zu den ersten, die sich mit digitalen Zwillingen beschäftigt und sie einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht hat. So ist es heute etwa möglich, sich schon vor Reiseantritt virtuell in einem Club Robinson auf den Malediven umzusehen, eine digitale Rundreise durch Indonesien zu unternehmen oder einen Blick in eine virtuelle Kopie des Kreuzfahrtschiffs Aida Nova zu werfen.

Virtuelle Abbilder

Paul Meyer, Chief Information Officer (CIO) der Emsländer Meyer Werft, die unter anderem schon mehrere Aida-Schiffe entwickelt und gebaut hat, geht diese Nutzung  virtueller Abbilder allerdings nicht weit genug. Auf den Hamburger IT-Strategietagen stellte er Anfang des Jahres sein Konzept „Digital Twins für die schwimmende Kleinstadt – digitale Transformation im Schiffbau“ vor. Der Schiffsbaukonzern nutzt ein PLM-System (Product Lifecycle Management), das nach Meyers Angaben derzeit schon mehr als 16 Millionen Einzelteile verwaltet, die heutzutage allesamt für ein modernes Kreuzfahrtschiff benötigt werden. Dazu gehören Schrauben, Bolzen und Nieten, aber etwa auch die Teppiche für die Speisesäle. Aus den Daten lassen sich digitale Zwillinge konstruieren, die zum Beispiel in einer sehr frühen Phase des Fertigungsprozesses einen Besuch des geplanten Ozeanriesen erlauben. Wenn dann Änderungen durch die Auftraggeber gewünscht werden, lassen sich diese im virtuellen Zwilling in Ruhe testen und kostengünstig durchrechnen.
Weniger bekannt sind digitale Zwillinge im medizinischen Bereich. Dabei handelt es sich um ein Thema, mit dem sich die Marktforschungsgesellschaft PwC Deutschland schon Ende 2018 in einer Studie beschäftigt hat. Drei Viertel der damals befragten Personen gaben an, noch nie von der Thematik gehört zu haben. Das übrige Viertel hatte zwar schon etwas mitbekommen davon, konnte es aber nicht genauer erklären. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bevölkerung in Deutschland digitalen Zwillingen in der Medizin ablehnend gegenüberstehen würde. Über 70 Prozent fanden die Idee laut PwC „sehr sinnvoll“ beziehungsweise „eher sinnvoll“. Als wichtigste Vorteile nannten die Teilnehmer der Studie eine mögliche Unterstützung ihres Arztes bei Entscheidungen über die optimale Therapie, die dadurch erleichterte Wahl passender Medikamente sowie eine Entlastung der Patienten durch die Vermeidung unnötiger Operationen.
Bei aller Begeisterung über die neuen Möglichkeiten wurden aber auch Nachteile genannt. So sahen viele Umfrageteilnehmer die Gefahr, dass ihre Daten in die falschen Hände geraten könnten, es zu einer zu geringen Orientierung am Menschen kommen könnte sowie ein erhöhtes Risiko technischer Fehler. Trotzdem würden jeweils rund 40 Prozent der Befragten einen digitalen Zwilling von sich erstellen lassen, wenn sie an einer chronischen oder an einer seltenen Krankheit litten.

Anforderungen an die Datenqualität

Die Journalistin Andrea Lutz und Doreen Pfeiffer, Redakteurin bei Siemens Healthineers, sind überzeugt, dass digitale Zwillinge die Medizin „völlig umkrempeln“ können. In einem Beitrag für den Medizintechnik-Hersteller weisen sie aber darauf hin, dass für virtuelle Zwillinge sehr viele Daten benötigt werden, die fortlaufend auf dem aktuellen Stand gehalten werden müssen. Diese Anforderung dürfe nicht unterschätzt werden.
Grundvoraussetzung für die Entwicklung echter digitaler Doppelgänger ist laut Lutz und Pfeiffer „das Vorhandensein vollständiger, sorgfältig erhobener Daten zum richtigen Zeitpunkt“.
Die Autorinnen geben zu bedenken, dass man zum Erstellen des Twins Millionen von Datensätzen benötigt. „Erst im nächsten Schritt können sie zu einem holistischen, menschlichen Modell zusammengesetzt werden, um für einen spezifischen Patienten Rückschlüsse zu ziehen, indem es dessen individuelle Ausgangssituation mit ähnlichen Datensätzen vergleicht“, schreiben sie in dem gemeinsam verfassten Beitrag.
Vollständige Modelle menschlicher Patienten blieben deswegen vorerst noch eine Vision. Anders sehe es aus, wenn es um bestimmte Teilbereiche gehe. Diese seien schon „zum Greifen nahe“. Nützlich seien digitale Zwillinge etwa, um für einzelne Personen Auswirkungen zu prognostizieren, wie sie zum Beispiel durch eine Änderung ihres Lebensstils eintreten.

Digital Twins in der Industrie

Richtig neu ist die Idee virtueller Zwillinge wie erwähnt nicht mehr. Schon seit Jahren werden sie in Simulationen oder zum Beispiel in CAD-/CAM-Systemen eingesetzt. In der Industrie hat sich die Nutzung von Digital Twins immer weiter verbreitet.
So kommt den digitalen Zwillingen nach Ansicht des Marktforschungsunternehmens Global Data mittlerweile eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Industrie 4.0 zu. Die Technik könne Herstellern dabei helfen, ihre Produktivität zu steigern und gleichzeitig die Betriebskosten zu senken, die Leistung zu optimieren und überhaupt die Art und Weise zu ändern, wie eine vorausschauende Anlagenwartung durchgeführt werden könne.
Je digitaler die Prozesse in den Fabriken werden, desto schneller gelingt es mithilfe der digitalen Zwillinge, physische Probleme zu finden, Ergebnisse neuer Prozesse genauer vorauszusagen und insgesamt bessere Produkte zu entwickeln, ist Global Data überzeugt. Die wichtigsten Faktoren sind dabei nach Aussage von Abhishek Paul Choudhury, Senior Disruptive Tech Analyst bei Global Data, Fortschritte in den Bereichen Machine Learning (ML), Künstliche Intelligenz (KI), Internet of Things (IoT) sowie die zunehmende Nutzung der Cloud.
“Omniverse verbindet Teams auf der ganzen Welt miteinander, um virtuelle Welten und digitale Zwillinge zu entwerfen, aufzubauen und zu betreiben.„
Jen-Hsun Huang
Gründer, President und CEO von Nvidia
Eine Rolle spiele zudem das Bedürfnis, sowohl die Kosten als auch die Zeit für die Entwicklung neuer Produkte zu reduzieren. „Die neue Technologie hilft den Herstellern beim Testen und Interagieren mit Sensoren, die in funktionierende Produkte eingebettet werden“, so Choudhury. Dadurch erhielten die Unternehmen nicht nur Echtzeiteinblicke in die Leistung der Systeme, sondern könnten rechtzeitige Wartungen und Reparaturen gewährleisten.

Fabriken planen im Omniverse

Eines der Unternehmen, die eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung und Nutzung digitaler Zwillinge spielen wollen, ist Nvidia. Der Grafikkartenhersteller hat die Omniverse-Plattform entwickelt, die seit Kurzem auch als buchbarer Cloud-Dienst zur Verfügung steht. Omniverse ermöglicht es den Kunden, physikalisch genaue virtuelle Replikate von einzigartigen Objekten, Prozessen oder Umgebungen zu erstellen und auf dieser Basis physikalisch korrekte
Simulationen in Echtzeit durchzuführen.
Darüber hinaus ist es mit der Omniverse-Plattform möglich, dass mehrere Nutzer gleichzeitig über das Internet an einem virtuellen Modell arbeiten und es gemeinsam verbessern. „Mit Omniverse in der Cloud können wir Teams auf der ganzen Welt miteinander verbinden, um virtuelle Welten und digitale Zwillinge zu entwerfen, aufzubauen und zu betreiben“, erläutert Jen-Hsun Huang, Gründer, President und CEO von Nvidia. Ausserdem lassen sich virtuelle Kundenbesuche durchführen, damit diese weit früher als bisher erfahren, wie das Produkt später tatsächlich aussehen wird. Nvidia hat Omniverse modular aufgebaut. Verschiedene Plug-ins stehen je nach Branche und Bereich zur Verfügung.




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