Seele verkauft 05.07.2021, 10:36 Uhr

Wie Twitter wegen Microsoft Ihre Tweets verfälscht

Hashtags (#Beispiel) sollen helfen, Tweets thematisch zuzuordnen und Inhalte zu bestimmten Themen zu finden. Twitter verkauft Hashtags aber auch an Unternehmen, was den Effekt hat, dass diesen Hashtags zusätzlich Emojis hinzufügt werden. Das verfälscht die Inhalte.
(Quelle: PCtipp.ch)
Auf das Problem gestossen bin ich nach dem Absenden eines scherzhaften Tweets, nämlich mit der Frage, ob wohl Clippy (auf deutschsprachigen Systemen Karl Klammer genannt) mit Windows 11 zurückkomme. Natürlich habe ich in diesem Tweet auch den Hashtag #Windows11 benutzt.
Erst nach dem Absenden des Tweets enthielt dieser aus heiterem Himmel ein zusätzliches Element, nämlich ein Smily mit blauen Herzchen-Augen, direkt hinter dem Hashtag. Das hatte ich doch gar nicht eingegeben! Ausserdem will ich nicht den Eindruck erwecken, Windows 11 zu mögen, solange ich es nicht selbst auf einer passenden Testmaschine installiert und ausprobiert habe.
Offensichtlich liegt ein Deal zwischen Microsoft und Twitter vor, damit Twitter jedem Vorkommen des #Windows11-Hashtags ein solches Herzchen-Gesicht hinzufügt. Und dies völlig unabhängig davon, ob es sich um einen kritischen oder positiven Tweet zum besagten Thema handelt.

Warum das gleich mehrfach ein Problem ist

Das von Twitter und Microsoft den Usern untergejubelte Emoji ist eine Gefühlsäusserung, welche mit der tatsächlichen Haltung der Twitter-User nichts zu tun haben muss. Es würde mich viel weniger stören, wenn es ein neutrales Emoji wäre, zum Beispiel ein Windows-Logo. Oder ein Laptop.
«Sanfte» Zensur: Nicht alle, die Windows 11 erwähnen, «lieben» es. Mit diesem Verhalten beeinflussen Microsoft und Twitter sehr direkt die Diskussion zum Thema. Wer einen kritischen oder neutralen Tweet zu Windows 11 machen will, wird zunächst über das in diesem Fall höchst unerwünschte Herzchen-Gesicht erschrecken, vermutlich den Tweet löschen und mit einem anderen Hashtag neu verfassen. So will Microsoft mit Twitters Hilfe erreichen, dass unter dem Hashtag #Windows11 fast nur noch positiv gefärbte Tweets zum neuen Betriebssystem zu finden sein werden. Die negativen oder neutralen verschwinden in der Masse der sonstigen Hashtags.
Unvorhersehbarkeit – gleich zweifach: Während dem Verfassen eines Tweets ist das untergeschobene Emoji nicht zu sehen; es taucht erst nach dem Absenden des Tweets auf. Bekanntlich lassen sich Tweets nicht nachträglich bearbeiten. Wer das inhaltsverzerrende Microsoft'sche Werbe-Emoji nicht in seinem Tweet haben will, kommt nicht darum herum, den Tweet zu löschen und mit einem anderen oder ohne Hashtag neu zu verfassen.
Das Emoji taucht zudem nicht nur in neuen Tweets auf, sondern auch in jenen, die vor der Werbeaktion verfasst wurden. Das ist möglich, weil das Werbe-Emoji nicht im Tweet steckt, sondern eine dynamische Einblendung neben dem Hashtag ist.

Wie Twitter mich «getrollt» hat

Bei der Recherche zu diesem zweifelhaften Twitter-Stunt habe ich mich via Twitter mit ein paar Journalisten-Kollegen zu diesem Thema ausgetauscht. Ausserdem verfasste ich eine Privatnachricht mit ein paar kritischen Fragen zu dieser Aktion ans @TwitterComms-Konto; das ist quasi die Presseabteilung Twitters. Wie zu erwarten war, gab es bislang keine Antwort.
Wenige Minuten danach waren die Herzchen-Gesichter verschwunden! Hat Twitter die Aktion etwa sofort abgeschaltet? Leider nein, denn jetzt sah es aus, als wolle Twitter mich gezielt veräppeln. Die Kollegen versicherten mir, dass sie das Werbe-Emoji bei den #Windows11-Hashtags immer noch sehen.
Zum Glück lassen sich Tweets auch anschauen, wenn man nicht eingeloggt ist. Und siehe da: Im eingeloggten Zustand (oberer Teil des Screenshots) war das Werbe-Emoji bei mir überall weg. Schaute ich mir denselben Tweet ohne Einloggen, im Privatmodus eines anderen Browsers an, war es jedoch weiterhin zu sehen, siehe unteren Teil.
Oben eingeloggt, unten nicht: Die Autorin bekam Microsofts Werbe-Emoji beim #Windows11-Hashtag in allen (auch den eigenen Tweets) zeitweise nicht zu sehen, auch wenn diese für andere User durchaus eingeblendet wurden
Quelle: PCtipp.ch
Solches ist nach meinem Empfinden einiges mehr als bloss «frech». Bei Hashtag-Nutzung sollte die Nutzerschaft darüber im Bild sein, wie ihre Tweets bei Anderen aussehen, besonders, wenn es um werbende oder verfälschende Zusätze wie in diesem Fall geht. Inzwischen sind die Werbe-Emojis auch in meinem Konto wieder da; sie gefallen mir weiterhin nicht, aber ich will wissen, wenn alle anderen sie sehen.

Die unfreiwilligen Zusatz-Emojis gibts seit 2014

Die zusätzlichen Emojis, die bei manchen Hashtags ohne Zutun der Nutzerschaft erscheinen, sind keineswegs ein neues Phänomen und werden als «Branded Hashtag Emojis» bezeichnet (von engl. «brand» für «Marke») . Etwa im Jahr 2015 gab es eine Twitter-Werbeaktion der US-Sandwich-Kette Subway, wodurch der Hashtag #SaveLunchBreak ein kleines Sandwich-Symbol erhielt.
Oder dann gibt es die gerade jetzt mit der Fussball-Europameisterschaft sehr intensiv genutzten Hashflags, also die Hashtags mit Länderkürzeln wie #SUI, die automatisch von Twitter mit einer kleinen Schweizerflagge dekoriert werden.
Die Länder-Hashtags erhalten ebenfalls automatisch ein Symbol in Form eines Flaggen-Icons
Quelle: PCtipp.ch
Diese sind mit der Fussball-WM 2014 aufgetaucht, wie Spotifys Social-Marketing-Chef Josh Karpf hier schreibt. Spotify selbst hat 2015 ein grünes Icon mit den Beatles gebucht, das bei Twitter platziert wurde, wenn jemand den Hashtag #BeatlesOnSpotify benutzte.
Bei Erscheinen der neuen Staffel der Serie «American Horror Story» 2019 wurden entsprechende Hashtags zur Serie ebenfalls mit einem Symbol garniert.
CocaCola, Starbucks, Dove – schon viele grosse Unternehmen mit dem nötigen Kleingeld haben bei Twitter Hashtags gebucht, die zumindest während einer bestimmten Zeit automatisch mit einem gesponserten Emoji oder sonstigen Symbol ergänzt wurden.

Hashtags sind nicht exklusiv

Während ein Hashtag wie z.B. #BeatlesOnSpotify recht speziell ist und ihn wohl niemand benutzt, der nicht explizit die Songs der Liverpooler Band bei Spotify meint, können andere Hashtags ins Auge gehen, besonders, falls man sie als branded Hashtags benutzen wollte.
Im Falle von #Windows11 verhindert das Sponsoring mit dem Herzchen-Gesicht eine sachliche, kritische Diskussion zum Thema. Wann der Spuk beim #Windows11-Hashtag vorbei ist, wissen wir nicht. Vielleicht schon morgen, vielleicht in einer Woche, vielleicht erst nach dem offiziellen Erscheinungstermin des Betriebssystems.
Bei wieder anderen Hashtags besteht immer auch eine Verwechslungsgefahr mit anderen Themen oder Organisationen. Bewohner von britischen oder US-Ortschaften namens «Ford» wären über ein «branded Hijacking» des #Ford-Hashtags durch eine gewisse Automarke ebenso wenig erfreut wie Fans eines gleichnamigen Schauspielers. Und die Hersteller eines gewissen mexikanischen Bieres warten vermutlich seit anderthalb Jahren darauf, ihren #Corona-Hashtag endlich wieder mehr oder weniger für sich zu haben; auf eine Branded-Hashtag-Aktion werden sie aber noch eine Weile warten müssen.

Eigentor für Microsoft und Twitter • Soll man alternative Hashtags nutzen?

Sollte Microsoft denn nicht das Recht haben, auf dem Hashtag zum eigenen Produktnamen eine Emoji-Einblendung zu buchen? Twitter kann das Geld auf jeden Fall brauchen. Und Microsoft möchte nicht, dass aus Windows 10 das nächste Windows 7 wird (das um Jahre länger als geplant unterstützt werden muss). Nicht zuletzt wird nicht mehr das Betriebssystem das Produkt sein, sondern die Dienste, die sich darum herum verkaufen lassen. Darum ist es verständlich, dass Microsoft mit möglichst viel Tamtam auf Windows 11 hinweist, es über einen ziemlich misslungenen Kompatibilitäts-Checker schon vor seinem Erscheinen als «knappes Gut» darstellt und die Meinungen auf Sozialen Medien wie Twitter mit zweifelhaften Mitteln zu beeinflussen versucht.
Hier sind aber beide – sowohl Twitter als auch Microsoft – dabei, ihr Vertrauen dauerhaft zu verspielen. Twitter hat im Vergleich zu Facebook bisher verhältnismässig sauber ausgesehen, was die Fremdeinwirkung auf den Feed der Nutzerschaft betrifft. Dass sich der Kurznachrichtendienst auf diese Gestaltung des Microsoft'schen Hashtag-Icons eingelassen hat, trägt jedoch den Beigeschmack von Userverrat und Seelenverkauf.
Microsoft hätte etwas mehr Weitblick gut getan. Man ist seit Jahrzehnten trotz oder vielleicht gerade wegen der Kritik von Userseite gewachsen. Die sachlichen oder kritischen Stimmen jetzt mit solchen Methoden auszusortieren hilft weder dem Produkt noch der Kundschaft, die derlei Verhalten erstens durchschaut und zweitens früher oder später abstrafen wird. Noch hat Microsoft das meistgenutzte Desktop-Betriebssystem im Portfolio.

Alternative Hashtags

Um von der unheiligen Allianz aus Microsoft und Twitter keine Herzchen-Augen-Meinung untergeschoben zu bekommen, verwendet ein Berufskollege aus Deutschland nun #_Windows11. Meine eigenen Kreationen hierzu könnten #WindowsEleven oder #Windowself heissen. Oder wie wäre es mit #WindowsB, weil B die hexadezimale Darstellung der Zahl 11 ist? Am besten gefiele mir als Alternative #Windows1011, denn dies ist die Zahl 11 in Binärschreibweise und widerspiegelt die Verwandtschaft mit Windows 10. Vielleicht wird Windows 11 aber auch bloss zum #WindowsNewVista und wird dereinst schneller verschwinden, als es Microsoft lieb ist.
Soll man auf Twitter also alternative Hashtags anstelle von #Windows11 verwenden? Tun Sie es nicht, auch wenn Sie jedes Mal in die Schreibtischkante beissen, wenn das unerwünschte Symbol erscheint. Fügen Sie allenfalls ein eigenes Emoji hinzu, das Ihre Einschätzung besser widerspiegelt. Denn der Spuk wird irgendwann vorbei sein. Der Tweet-Inhalt wird nicht geändert; es ist nur die vorübergehende Anzeige Ihres Tweets. Wer sich nach dieser unsäglich peinlichen und ärgerlichen Werbeaktion von Microsoft auf Twitter nach Tweets zum Thema #Windows11 umschaut, soll auch Ihre Tweets dort finden.
Post Scriptum: Alles fing ja bloss mit der Frage zum Revival von Karl «Clippy» Klammer an. Damit könnte Microsoft den Prozess des baldigen Vergessens von Windows 11 noch beschleunigen. Diesen Fehler werden die Redmonder dann wohl doch nicht machen. Oder etwa doch?




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