Geschichte
20.04.2022, 17:26 Uhr
Das Internet wächst auch in der Schweiz
Das Internet bestand 1992 vornehmlich aus Forschungsnetzwerken. Sie bewiesen ihre Nützlichkeit. So fand das Internet auch in der Schweiz den Zuspruch von Tausenden Anwendern.
In Europa waren 1992 nur einige Hunderttausend PCs ans Internet angeschlossen
(Quelle: Computerworld-Archiv/Bettina Truninger)
Ausgerechnet aus dem CERN wurden vor 30 Jahren mahnende Worte laut, Europa müsse bei der Verbreitung des Internets zu den Vereinigten Staaten aufschliessen. In einem Gastartikel für unser Schwestermedium «Computerworld» beklagten die CERN-Wissenschaftler Brian Carpenter und David Williams, dass der Alten Welt jegliche kontinentweite Infrastruktur fehle. «Unglücklicherweise werden europäische Datennetze auf Länderbasis geplant und betrieben», analysierten die Experten. Damit scheine Europa im Begriff zu sein, einen lebenswichtigen Teil seiner zukünftigen industriellen und kommerziellen Basis an die ausserkontinentale Konkurrenz abzutreten.
Den Fortschritt in Europa bremsten unter anderem die Vorschriften der verschiedenen staatlichen Telekommunikationsgesellschaften, ausserordentlich hohe Leitungsmieten, der Mangel an paneuropäischen Leitungsanbietern sowie die erzkonservative Haltung der europäischen Industrie-Unternehmen gegenüber der modernen Telekommunikationstechnik, wetterten die Wissenschaftler.
Hunderttausende PCs im Internet
Sie waren im CERN über das Internet mit in- und ausländischen Forschungsinstitutionen verbunden: Von den global rund 1 Million vernetzten Computern standen nur einige Hunderttausend PCs in der Alten Welt. Die Leitungen wurden typischerweise von den Teilnehmern aus Forschung und Wissenschaft selbst verlegt und betrieben. Andere – meist nationale – Netzwerke basierten auf Mietleitungen der nationalen PTTs. Wegen der teuren Mietleitungen sei es in Europa normal, dass eine Forschungseinrichtung eine Übermittlungsbandbreite von maximal 64 Kilobit pro Sekunde nutzen könne, führten Carpenter und Williams aus. Und doppelten nach, dass 64 Kbit/s nur 1 Prozent der theoretisch möglichen Geschwindigkeit seien.
Dem CERN stand immerhin eine Datenleitung nach Bologna mit 2 Megabit pro Sekunde zur Verfügung und auch das Hochschulnetz SWITCHlan war mit diesem Tempo unterwegs. Die Uneinigkeit über die Technik und die hohen Mietkosten hätten es bisher verunmöglicht, ein europaweites Hauptnetz mit 2 Mbit/s zu installieren, so die Forscher. In den USA seien hingegen fünf Teststrecken mit Übertragungsgeschwindigkeiten von 1 Gigabit pro Sekunde installiert.
Im Rückblick sollten die weniger gut ausgebauten europäischen Netzwerke keine wirkliche Bremse für das Internet sein. Und schon gar nicht den Siegeszug des World Wide Web aufhalten, das im CERN 1992 schon seit einem Jahr in Betrieb war.
Heilsames Skorpiongift
Das Potenzial des Internets für die Forschung wussten Wissenschaftler rund um den Globus schon 1992 zu nutzen. Eine der frühen Anwendungen war die Suche nach einem Medikament gegen die Bauchspeicheldrüsenentzündung, berichtete «Computerworld». Dank des weltweiten Journalisten-Netzwerks damals konnten die Schweizer Redaktoren über Forscher schreiben, die sich auf die Analyse des Gifts des brasilianischen gelben Skorpions (Tityus serrulatus) konzentrierten.
Während in unseren Breitengraden übermässiger Alkoholgenuss die häufigste Ursache für eine Bauchspeicheldrüsenentzündung ist, wird in Lateinamerika das Skorpiongift mit der Erkrankung in Zusammenhang gebracht. In den 1990ern wurden jährlich mehrere Millionen Menschen von den fünf Zentimeter grossen Tierchen gestochen. Viele Gestochene entwickelten daraufhin alle Symptome einer Bauchspeicheldrüsenentzündung; bei 1 bis 2 Prozent führte der Stich sogar zum Tod.
Der Verdacht, dass in Lateinamerika ein Zusammenhang besteht zwischen der Erkrankung und Tityus serrulatus, kam vor rund 50 Jahren auf. Zu den Forschern der ersten Stunde gehörte der US-amerikanische Mikrobiologe Paul Fletcher. Unter seiner Ägide wurden die chemischen Bestandteile des Skorpiongifts entschlüsselt und ihre Auswirkungen auf die Drüse untersucht. Den Wissenschaftlern gelang es wenig später, Proteine mit toxischen Eigenschaften aus dem Gift zu isolieren, die als Auslöser der Entzündung infrage kamen. Mithilfe von Computersimulationen konnten sie zudem Licht in die chemischen Prozesse in den befallenen Zellen bringen. In der Folge wurde das Thema von anderen Forschergruppen aufgegriffen und inzwischen wird in Labors rund um den Globus mit dem Gift experimentiert.
Während ursprünglich Konferenzen für den Informationsaustausch dienten, nutzten Forscher Anfang der 1990er vorwiegend elektronische Mittel. Im Mittelpunkt stand dabei das Internet, in dem 8000 Netzwerke in 110 Ländern zusammengeschlossen waren. Es wurde von rund 10 Millionen Anwendern genutzt. Laut Fletcher habe das Internet die Erforschung der Bauchspeicheldrüse «erheblich beschleunigt». Die Koordination der internationalen Anstrengungen konnte verbessert und Doppelspurigkeiten oder Leerläufe reduziert werden. Das wichtigste Ziel, die Entwicklung einer Arznei zur Behandlung von Krankheiten, war jedoch auch 1992 noch nicht erreicht. Allerdings glaubten die Experten, im Gift von Tityus serrulatus einen Schlüssel gefunden zu haben. Leider sollten sie sich irren, denn Bauchspeicheldrüsenentzündungen müssen bis heute operiert werden.
Internet ab 100 Franken
Wie seine Vorläufer war der Zugriff auf das Internet ursprünglich auf staatliche Stellen, Universitäten und Forschungsinstitutionen beschränkt. Kommerzielle Unternehmen bekamen nur zögerlich einen Zugang, den sie sich teuer bezahlen liessen. Einer der ersten Anbieter war CompuServe, der 1992 zum weltweiten Marktführer avancierte, wie «Computerworld» berichtete. Demnach gehörte es in den USA bereits zum Alltag, bei offenen Fragen den Online-Informationsdienst anzuzapfen. Neben einem Grunddienst, der vor allem Nachrichten umfasste sowie Flugreservierungs- und elektronische Einkaufsmöglichkeiten bot, zählte CompuServe über 200 Foren mit den Bereichen Anschlagbretter, Bibliotheken und Konferenzen. Davon wurden mehrere Dutzend von Hardware- und Software-Herstellern betreut, um Anwender bei Fragen und Problemen zu unterstützen. Daneben bot CompuServe Zugriff auf 850 (kostenpflichtige) Datenbanken und Fachbibliotheken. Weiter besass jeder Teilnehmer ein eigenes Postfach. So waren global 1 Million User und in der Schweiz rund 5000 Abonnenten via Internet erreichbar.
Sie konnten Mitte Jahr aufatmen, denn der US-amerikanische Dienst installierte einen Netzknoten in Zürich. Damit sanken die Verbindungskosten bei einer Geschwindigkeit bis 9600 Bit/s von tagsüber 9.20 auf 7.70 und nachts auf 2.20 US-Dollar pro Stunde. Für 9600 Bit/s wurden tagsüber neu 30 und nachts 18 US-Dollar pro Stunde verlangt.
Als erster europäischer Anbieter hatte EUnet 1990 damit begonnen, Internet-Zugänge an Privatpersonen zu verkaufen. Den Anfang machten die Niederlande. Der Markteintritt in der Schweiz folgte 1992, wie einer Kurzmeldung in der «Computerworld» zu entnehmen ist. EUnet verlangte pauschal 100 Franken pro Monat für die Archivnutzung, ein elektronisches Postfach und Usenet-Newsgroups. Hinzu kamen Verbindungsgebühren von 50 Rappen pro Minute zu jeder Tages- und Nachtzeit.