Digitale Souveränität
22.02.2021, 13:21 Uhr
Unternehmen wollen mehr Digital-Know-how
Bitkom-Studie: Deutschland ist bei digitalen Technologien zu sehr auf Importe angewiesen, sollte in eigene Entwicklungen investieren und gemeinsam mit Europa eigenständiger und selbstbewusster auftreten, um neue Gestaltungs- und Innovationsspielräume zu gewinnen.
Das sind die zentralen Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von mehr als 1.100 Unternehmen aller Branchen in Deutschland ab 20 Mitarbeitern im Auftrag des Digitalverbands Bitkom.
Nahezu alle Unternehmen (95 Prozent) sind der Ansicht, dass Deutschland vermehrt auf eigene technologische Fähigkeiten bauen sollte. Aktuell sind Digital-Importe existenziell wichtig für die deutsche Wirtschaft. 94 Prozent der Unternehmen sind darauf angewiesen. Darunter hält sich eine grosse Mehrheit für nur kurzzeitig überlebensfähig, wenn digitale Technologien beziehungsweise Dienstleistungen plötzlich nicht mehr aus dem Ausland bezogen werden könnten. Knapp zwei Drittel (63 Prozent) könnten 13 bis 24 Monate überleben. 13 Prozent wären sieben bis zwölf Monate überlebensfähig, 9 Prozent sogar nur bis zu sechs Monate. Länger als zwei Jahre könnten 13 Prozent der Unternehmen durchhalten. "Die Digitalwirtschaft lebt vom Global Sourcing und bezieht ihre Innovationsstärke aus ihrer intensiven weltweiten Vernetzung und Arbeitsteilung. Den schnellen Austausch von Technologien und Innovationen im Weltmassstab dürfen wir nicht riskieren. Wenn internationale Handelsbeziehungen aus dem Gleichgewicht geraten und digitale Technologien wie im Konflikt zwischen den USA und China als politisches Druckmittel missbraucht werden, müssen wir gegensteuern können und dazu unsere Ausgangsposition verbessern", sagt Bitkom-Präsident Achim Berg.
Corona-Krise verschärft Ungleichheiten
Mit der Corona-Krise hat sich das digitale Ungleichgewicht nach Einschätzung der Unternehmen weiter verschärft. Acht von zehn (81 Prozent) erwarten, dass die führenden Technologiekonzerne ihre Vormachtstellung weiter ausbauen. Drei von vier (74 Prozent) sehen durch die Corona-Pandemie verschärfte internationale Ungleichheiten im Wettbewerb um digitale Technologien. Vier von zehn (41 Prozent) gehen sogar davon aus, dass der technologische Vorsprung anderer Länder für Deutschland nicht mehr aufzuholen ist. Berg: "In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in einigen Bereichen an Boden verloren, aber das heisst nicht zwangsläufig, dass es auch so weitergehen muss. Wenn wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen und gezielt digitale Schlüsseltechnologien fördern, können wir die Trendwende einleiten."
Mehrheit importiert Hard- und Software
Ganz oben auf der Einfuhrliste stehen digitale Endgeräte, die von drei Vierteln der Unternehmen (77 Prozent) aus dem Ausland bezogen werden. Zwei Drittel (66 Prozent) importieren Bauteile beziehungsweise Hardware-Komponenten. Sechs von zehn (57 Prozent) beziehen Software-Anwendungen und Module aus dem Ausland. Vier von zehn (42 Prozent) setzen auf den Import von digitalen Dienstleistungen wie Cloud Services. Nur 2 Prozent der Unternehmen verzeichnet keinerlei Digital-Importe. Die wichtigsten Handelspartner für Einfuhren sind vor allem die EU-Länder, aus denen acht von zehn Unternehmen (80 Prozent), die importieren, digitale Technologien oder Services beziehen – gefolgt von den USA (74 Prozent) und China (62 Prozent). Aus Japan importiert jedes dritte Unternehmen (32 Prozent) IT oder digitale Dienstleistungen. "Digitale Technologien gehören in allen Branchen zum Standard. Es gibt praktisch kein Unternehmen, das nicht Hardware, Software oder digitale Dienstleistungen im Ausland einkauft. Die internationale Arbeitsteilung bietet extrem viele Vorteile, die es zu sichern gilt", sagt Berg.
Besonders abhängig von Digital-Importen
Der eigene Standort wird im Vergleich zu anderen Wirtschaftsregionen als besonders abhängig von Digital-Importen eingeschätzt. Acht von zehn Unternehmen (80 Prozent) halten Deutschland für abhängig vom Import beziehungsweise vom Bezug digitaler Technologien, Dienstleistungen und Expertise aus anderen Ländern. Das ist der höchste Wert im Vergleich der untersuchten Wirtschaftsräume. Jeweils zwei Drittel sehen die restliche Europäische Union (68 Prozent) und das Vereinigte Königreich (68 Prozent) als abhängig an, bei Russland (51 Prozent), den USA (48 Prozent) und Japan (46 Prozent) ist es etwa jedes zweite. Als vergleichsweise wenig abhängig gilt China (31 Prozent). Jedes zweite Unternehmen (49 Prozent) geht davon aus, dass die Abhängigkeit Deutschlands und Europas in den kommenden fünf Jahren weiter zunimmt. Nur jedes fünfte (19 Prozent) erwartet, dass die Abhängigkeit künftig abnimmt. Besser werden die Perspektiven der USA wahrgenommen: Während drei von zehn Unternehmen (30 Prozent) auch für die USA eine steigende Abhängigkeit erwarten, meinen vier von zehn (38 Prozent), dass sie abnimmt. Am stärksten wird China eingeschätzt, für das fast die Hälfte (46 Prozent) der Unternehmen damit rechnet, dass die Abhängigkeit abnimmt, während nur jedes vierte (26 Prozent) glaubt, dass sie zunimmt.
Abhängigkeit bei ITK-Hardware und 5G-Technologie am grössten
Die Abhängigkeit Deutschlands ist nach Einschätzung der Unternehmen am grössten bei Hardware-Importen. Acht von zehn (81 Prozent) schätzen Deutschland als abhängig vom Import von IT- beziehungsweise Kommunikationsgeräten und -systemen ein. Sieben von zehn (71 Prozent) sagen das für 5G-Technologie. Jeweils rund zwei Drittel sehen eine Abhängigkeit bei Künstlicher Intelligenz (68 Prozent), Virtual beziehungsweise Augmented Reality (67 Prozent), Quantencomputern (65 Prozent) und Blockchain (65 Prozent). Im Mittelfeld liegen Drohnen (56 Prozent) und IT-Sicherheitstechnologien (55 Prozent). Als vergleichsweise gering gilt die Import-Abhängigkeit bei 3D-Druck (37 Prozent), Sensorik (35 Prozent) und ERP-, ECM- und CRM-Lösungen (21 Prozent).
Preis, Leistung und Sicherheit entscheiden
Bei der Wahl ausländischer Geschäftspartner im Zusammenhang mit digitalen Produkten und Dienstleistungen spielen neben Preis und Leistung insbesondere Sicherheit, Vertrauen und Verlässlichkeit eine entscheide Rolle. Neun von zehn Unternehmen (87 Prozent) achten auf Rechtssicherheit im Land des Geschäftspartners, sechs von zehn (60 Prozent) auf Transparenz der Lieferketten, 85 Prozent auf die IT-Sicherheitsstandards des Partners. Für 95 Prozent ist das technologische Know-how des Geschäftspartners ein wichtiges Kriterium, für 93 Prozent sind es die finanziellen Konditionen.
USA im Vertrauens-Ranking nur knapp vor China
Das Vertrauen in die globalen Wirtschaftsräume fällt sehr unterschiedlich aus. Als besonders verlässlich gelten die EU-Länder, in die neun von zehn (89 Prozent) grosses Vertrauen haben. Ebenfalls gross ist das Vertrauen in Japan (61 Prozent) und das Vereinigte Königreich (59 Prozent). Indien (41 Prozent) rangiert dabei noch vor den USA (39 Prozent), die nur knapp vor China (31 Prozent) landen. In Russland hat nur jedes siebte Unternehmen (15 Prozent) grosses Vertrauen. Berg: "Die USA haben in der deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren massiv Vertrauen verspielt und werden aktuell nur bedingt als verlässlicher Handelspartner gesehen. Eines der zentralen Anliegen der neuen US-Regierung sollte sein, dieses verloren gegangene Vertrauen wiederaufzubauen." Denn für Unternehmen, die internationale Handelsbeziehungen rund um digitale Produkte und Dienstleistungen unterhalten, spielt zu 91 Prozent Vertrauen in die Politik des Partnerlandes eine wichtige Rolle bei der Auswahl ihrer Geschäftspartner. Dabei sind die internationalen Handelsbeziehungen nicht selten prekär: Jedes zweite Unternehmen (50 Prozent) gibt an, hinsichtlich der Verlässlichkeit der nationalstaatlichen Politik am Sitz der Partner gezwungenermassen Risiken einzugehen. Jedes Dritte (33 Prozent) sieht faktische keine Abwehrmöglichkeit, wenn es von bestimmten ausländischen Partnern beziehungsweise Regierungen unter Druck gesetzt wird. 14 Prozent sehen eine grundsätzliche Gefahr, dass ihr Unternehmen von ausländischen Geschäftspartnern oder Regierungen erpressbar ist.
Deutschland und Europa sollen selbstbestimmter werden
Ungeteilte Einigkeit herrscht darüber, dass einseitige Abhängigkeiten bei digitalen Technologien zu vermeiden sind: Ausnahmslos jedes Unternehmen (100 Prozent) sagt, Deutschland müsse mehr digitale Souveränität erlangen. Allgemein wünschen sich die Unternehmen mehr Selbstbestimmung. Acht von zehn (81 Prozent) sind der Ansicht, dass die deutsche Wirtschaft generell zu stark vom Ausland abhängig ist. Zwei Drittel (64 Prozent) meinen, dass Deutschland und Europa in globalen Handelsstreitigkeiten zu passiv auftreten. Eine übergrosse Mehrheit (94 Prozent) wünscht sich, Deutschland solle sich dafür einsetzen, dass die EU im Handel auf Augenhöhe mit China und den USA agiert. Beim internationalen Handelsstreit zwischen den beiden wirtschaftlichen Schwergewichten befürworten die meisten Unternehmen hingegen Neutralität. 85 Prozent meinen, Deutschland sollte sich auf keine der beiden Seiten stellen, sondern neutral bleiben. 7 Prozent meinen, Deutschland sollte sich für die USA starkmachen, 2 Prozent tendieren zu China. Berg: "Der Wunsch nach Neutralität ist auf das neue Misstrauen zurückzuführen, das mit dem Protektionismus der vergangenen Jahre gewachsen ist. Zugleich ist es ein Plädoyer dafür, sich von ungesunden Abhängigkeiten zu lösen und mehr Eigenständigkeit zu entwickeln, um künftig auf Augenhöhe digitale Schlüsseltechnologien, Geschäftsmodelle und Ökosysteme mitzugestalten."
Hohe Erwartungen an einen starken Staat
Um sich technologisch stärker aufzustellen, sollte Deutschland nach Ansicht von mehr als neun von zehn Unternehmen in IT-Sicherheitstechnologien (96 Prozent), Künstliche Intelligenz (96 Prozent) und 5G (93 Prozent) investieren. Auch Big Data und Analytics (86 Prozent), Robotik (85 Prozent) und das Internet of Things (80 Prozent) stehen ganz oben auf der Prioritätenliste. Neun von zehn Unternehmen (91 Prozent) fordern die Verstärkung der öffentlichen Forschungsförderung von Schlüsseltechnologien. Ebenso viele (91 Prozent) meinen, dass die Bundesregierung eingreifen sollte, wenn eine Übernahme wichtiger deutscher Technologieunternehmen durch ausländische Investoren droht. Acht von zehn Unternehmen (79 Prozent) sagen, die Bundesregierung sollte verhindern, dass Deutschlands Infrastrukturen in die Hand von Nicht-EU-Unternehmen geraten. Jedes vierte Unternehmen (25 Prozent) hingegen meint, der Staat sollte sich grundsätzlich aus der Wirtschaft heraushalten.
Bitkom-Vorschläge für digitale Souveränität
Digitale Souveränität ist neben digitaler Teilhabe, Nachhaltigkeit und Resilienz eine der vier Säulen des neuen Bitkom-Programms. Bitkom schlägt vor, in der Forschungsförderung vom geltenden Giesskannenprinzip wegzukommen und ausgewählte Forschungs- und Förderschwerpunkte für digitale Schlüsseltechnologien zu definieren und stark zu machen. Wichtig sei dabei, vorhandene Stärken zu stärken, etwa beim autonomen Fahren, in der IT-Sicherheit oder bei Künstlichen Intelligenz in der Medizin. Kommunikationssysteme und Netze stellten die zentrale Infrastruktur der Digitalisierung und hier müsse die aktuelle Vorreiterrolle gerade bei mobilen Netzen weiter ausgebaut werden. Speziell bei datengetriebenen Plattformen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Mobilität und IoT müsse Deutschland eine herausgehobene Position anstreben. Diese Ziele sollten gemeinsam auf Ebene der Europäischen Union angegangen werden, um im globalen Wettbewerb an Schlagkraft zu gewinnen. Die Förderung zukunftsfähiger Technologiefelder müsse von einer modernen und wettbewerbsfördernden Industriepolitik begleitet werden. Diese sollte sich an dem Grundsatz orientieren, dass die besten Voraussetzungen für Innovation und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in offenen und resilienten Systemen, fairem Wettbewerb und einem Level Playing Field liegen. Die industriellen Ökosysteme Europas sollten stärker vernetzt werden, um Synergien zu erzeugen und Kooperationen zwischen Startups, Mittelständlern und Konzernen in der gesamten EU zu fördern. Das vollständige Programm "Nachhaltig, souverän, resilient: Deutschlands digitale Dekade" findet sich unter www.digitalwahl21.de.