SAP-Interview
07.03.2016, 23:50 Uhr
Helen Arnold: Digitale Transformation - jetzt wird es ernst
Die Innovationschefin von SAP Helen Arnold gibt Tipps, wie sich Unternehmen am Besten für die Digitale Transformation aufstellen. SAP hat alles im eigenen Unternehmen ausprobiert - mit Erfolg.
Ingrid-Helen Arnold ist Mitglied des SAP Global Managing Board, Chief Information Officer und Chief Process Officer. Mit ihrem starken Fokus auf Innovation und mit ihrer langjährigen Erfahrung in der Neugestaltung von Geschäftsprozesse lenkt Arnold die Business Transformation des Software-Herstellers massgeblich mit.
Online PC sprach mit ihr am Rande des Mobile World Congress (MWC) in Barcelona: Was müssen Unternehmen heute tun, um morgen nicht von der Digitalen Transformation überrollt zu werden? Welche Auswirkungen hat der Technologieschub auf unsere Arbeitswelt?
Frau Arnold, was verbinden Sie mit dem heiss diskutierten Schlagwort „Digitale Transformation“? Was gehört für Sie dazu?
Arnold: Über Digitalisierung sprechen wir in der IT bereits seit Jahren, sie ist für uns nichts Neues. Digitalisierung ist ein immenser Innovationsschub, der ganze Industrien und letztlich unsere Gesellschaft gründlich verändern wird, so wie seinerzeit die Industrielle Revolution.
Nehmen Sie als Beispiel das autonome Fahren. Damit beschäftigen wir uns zwar schon sehr lange. Aber erst in den letzten zwei Jahren hat man gemerkt, dass es jetzt wirklich ernst wird. Die Systeme werden intelligenter und ausgereifter. Was für ein Potenzial darin steckt, welche neuen Geschäftsmodelle möglich werden, das ist schon phänomenal. Technologie ist nicht mehr der limitierende Faktor. Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet: Wie können wir dieses riesige Potenzial so nutzen, dass die gesamte Gesellschaft davon profitiert.
SAP steht gut da. Bei anderen ehemals sehr erfolgreichen IT-Konzernen – zum Beispiel HP oder IBM - sieht es dagegen nicht ganz so gut aus. Entlassungen und Umsatzverluste reissen nicht ab. Wie müssen sich die alten Erfolgsunternehmen anpassen, um auch weiterhin Erfolg zu haben?
Arnold: Da ergeben sich zwei wichtige Ansatzpunkte: Natürlich muss sich ein Unternehmen den Marktbedingungen anpassen, aber es kann auch bedeuten, sich ganz neu erfinden zu müssen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen. Denn die alten, erfolgreichen Unternehmen haben eins gemeinsam: Sie sind bereits sehr lange auf dem Markt - SAP bereits seit 43 Jahren – und haben sich von einem Ein-Produkt-Unternehmen zu einem breit gefächerten Lösungsportfolio-Anbieter weiterentwickelt. Risiken eingehen heisst jetzt, einiges von Grund auf neu zu durchdenken, so wie ein Start-up. Mit der Transformation zum Cloud-Anbieter haben wir bewiesen, dass dies möglich ist.
Digitale Erfolgsrezepte
Schaffen das grosse, alte Unternehmen denn noch? Am Anfang ist man klein, agil und innovativ. Unternehmen folgen dann aber einem typischen Lebenszyklus. Mit dem Erfolg kommen Wachstum, Hierarchien und Organisationsstrukturen. Die Firma ist dann nicht mehr so agil wie anfangs.
Arnold: Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Deshalb ist es so wichtig, sich immer wieder zu fragen: Wie bekommen wir das Entrepreneurial Thinking, das Start-ups so erfolgreich praktizieren, ins eigene Unternehmen hinein? Das schaffen Sie nicht von heute auf morgen, Sie brauchen einen systematischen Ansatz. Wir müssen auf allen Kaskadierungsstufen die Ideen identifizieren, die wir in der Praxis auf den Weg bringen können.
Als CIO bei SAP gehört es zu meinen Aufgaben, Programme zu starten, die sich an alle Mitarbeiter richten und die genau das zur Zielsetzung haben. Es braucht dazu Freiraum und eine gewisse Kultur. Und nicht jede Idee, die entwickelt wird, ist auch überlebensfähig. Aber genau darin liegt die Herausforderung und zugleich die Chance, sich als Unternehmen weiterzuentwickeln und eben auch neu zu erfinden.
Ist es denn wirklich nur die Leidenschaft, die fehlt? Schauen wir doch einmal auf den Software-Markt. Sie haben viele zufriedene Kunden, die erfolgreich mit ihren teilweise schon alten Programmen arbeiten. Und ihr neues Software-Release muss nicht nur innovativ, sondern mit der alten Legacy auch rückwärtskompatibel sein. Als erfolgreiches Unternehmen sind Sie schon allein aus diesem Grund nicht mehr so flexibel wie ein Start-up.
Arnold: Da haben Sie sicherlich recht. Es ist nicht nur eine Frage der Innovationen. Entscheidend ist, wie schnell Sie die Innovationen tatsächlich adaptieren können. Wir optimieren unsere bestehenden, erfolgreichen Geschäftsmodelle kontinuierlich, automatisieren und werden effizienter. Daneben haben Sie ganz neue Geschäftsmodelle. Sie stehen immer mit einem Bein in der Gegenwart, mit dem anderen bereits in der Zukunft. SAP unterhält langjährige Kundenbeziehungen, und deren Geschäftsmodelle werden wir nach und nach innovativ ergänzen, um sie auf der Reise der Digitalen Transformation zu begleiten.
Dabei hilft uns das Konzept der zwei Geschwindigkeiten, der bimodalen IT. Es braucht beides: den grossen Tanker und die wendigen, schnellen Hochgeschwindigkeitsboote, um am Markt Erfolg zu haben.
Diese Branchen profitieren von der Digitalen Transformation
Hat man dann zwei Unternehmen in einem? Ist das ihr Erfolgsrezept für Konzerne wie HPE, IBM und SAP?
Arnold: Wir brauchen ganz unterschiedliche Rollen und Fähigkeiten bei unseren Mitarbeitern. Heute benötige ich zum Beispiel mehr Business-Architekten und Software-Designer als in der Vergangenheit.
Und dieser Wandel ist auch Bestandteil der Digitalen Transformation. Wir müssen allerdings unsere SAP-Mitarbeiter mitnehmen, dürfen nicht auslagern und aufgliedern in eine alte und eine neue Unternehmenswelt. Das ist nicht leicht.
Der Taxivermittler Uber und der Apartement-Vermieter Airbnb werden häufig als Beispiele für den neuen Typ von Unternehmen genannt. Beide sind sehr erfolgreich. In welchen Branchen und Märkten erwarten Sie den nächsten grossen Innovationsschub?
Arnold: Überall dort, wo es zurzeit für den Endanwender noch umständlich ist, haben neue Anbieter gute Marktchancen. Werfen Sie zum Beispiel einen Blick auf die Finanzindustrie (Paypal/Blockchain). Da wird zukünftig viel passieren. Wenn ich in Echtzeit zum Beispiel meinem Kollegen in den USA tausend Dollar überweisen kann, ohne dafür Gebühren bezahlen zu müssen, dann ist das per se disruptiv. Auch im Automobilbereich, beim autonomen Fahren, sehe ich grosses Potenzial. Ausserdem im Gesundheitswesen, wo wir mit neuen analytischen Technologien präziser und präventiver in den Markt gehen können, sodass sich bestimmte Krankheitsbilder erst gar nicht entwickeln. Im Finanzsektor fallen die Gebühren weg, das ist hoch disruptiv.
Aber der Automobilindustrie kann es doch egal sein, ob hinter dem Steuer ein Mensch oder Software sitzt. Die verkaufen Fahrzeuge.
Arnold: Vielen Autofahrern ist das Fahrvergnügen wichtig. Setzen Sie sich in einen BMW mit konventionellem Antrieb, und setzen Sie sich in einen Tesla mit Elektroantrieb. Das Fahrerlebnis wird sehr unterschiedlich sein. Beim autonomen Fahren aber wird das Auto aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden: Wie gut ist es vernetzt, wie gut sind Services eingebunden wie Parkplatzsuche oder Aufladestationen finden? Oder wie bequem sitze ich in dem Auto und kann bereits Bürotätigkeiten erledigen?
Es fallen also Emotionen, die viele Fahrer mit dem Auto (selbst hinter dem Steuer sitzen) verbinden, komplett weg, und das ist sehr disruptiv. Ich glaube, dass keine Branche sich heute auf bestehenden Erfolgen ausruhen kann.
Wissenschaftler behaupten, dass durch die Digitale Transformation 50 Prozent der heutigen Arbeitsplätze verschwinden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird diskutiert, um den Übergang sozial abzufedern. Schätzen Sie das ähnlich ein, oder halten Sie solche Zahlen für Panikmacherei?
Arnold: Ich bin Mutter von zwei Kindern und frage mich schon, wie die Zukunft meiner Kinder aussehen wird. Setzen wir zum Beispiel in Erziehung, Schule und Ausbildung noch die richtigen Schwerpunkte, um dem Nachwuchs die richtigen Weichen für das Berufsleben zu stellen?
Disruptive Veränderungen der Gesellschaft
Halten Sie 50 Prozent für eine realistische Prognose?
Arnold: Ich glaube, dass wir uns als Gesellschaft mit der Zukunft der Beschäftigung auseinandersetzen müssen. In den 80er-Jahren hat der PC die Arbeitswelt verändert, und das ging gut, das wissen wir heute.
In der Umbruchsphase aber muss man sich überlegen, wie man die Konsequenzen gesellschaftspolitisch begleitet und auch abfedert.
Was wären ihre Vorschläge?
Arnold: Schauen Sie, die Schule ist zurzeit mehr oder weniger eine digitalfreie Zone. Es gibt keine Minute Unterricht über zum Beispiel die Funktionsweise eines Algorithmus‘ oder eines Netzwerkes. Wir sollten in der Erziehung, unabhängig von den Altersklassen, vordenken und die richtigen Entscheidungen treffen, damit unsere Kinder die Kompetenzen erlernen, die sie morgen benötigen.
Ich sehe den Wandel aber auch in meiner Position als CIO bei SAP. Früher war es zum Beispiel wichtig, Blaupausen zu schreiben. Aber das ist in der Arbeitswelt von heute nicht mehr wichtig. Altbewährtes zu überdenken ist eine Aufgabe, die wir auf allen Ebenen angehen müssen, sei es im einzelnen Unternehmen, sei es in der Politik oder im Fortbildungssektor.
Wie sieht die digitale Transformation bei SAP selbst aus? Wie gehen Sie das an?
Arnold: Wir unterscheiden zwischen differenzierenden Geschäftsprozessen, die sich eng am Kunden orientieren, und nicht differenzierenden Standardprozessen. Der Geschäftsprozesskern, das monolithische ERP der Vergangenheit, ist offener geworden. Unser S/4-Kern bietet heute mehr Andockstationen. Wir haben vor einigen Jahren einen harten Schnitt gemacht und unsere Prozesse entrümpelt und verschlankt. Heute - aus der Cloud - beziehe ich kleinere, portionsgerechtere Prozesse. Wir befördern die nicht differenzierenden Standardprozesse, zum Beispiel HR oder Einkauf, konsequent in die Cloud. Da sind wir – SAP - unsere eigene Referenz.
Hat sich die Arbeit bei der SAP dadurch verändert? Nehmen wir die Software-Entwickler: SwissQ hat mir gesagt, dass im Banken- und Versicherungsbereich die Wasserfall-Methodik immer noch recht verbreitet sei.
Arnold: Bei SAP wird nicht mehr nach dem Wasserfall-Verfahren entwickelt. Aber das hat sich auch nicht von heute auf morgen verändert, sondern hat etwa zwei Jahre gedauert. Vorreiter waren neue Bereiche wie Mobile und Cloud, die in wöchentlichen Iterationszyklen arbeiten. Heute arbeiten unsere Software-Entwickler nach DevOps, orientieren sich also sehr eng am Betrieb der Lösungen, die sie programmieren.
Auch das ist digitale Transformation. Das Vorgehen nach dem Wasserfall-Prinzip stellt ein ganz anderes Kompetenzprofil an die Mitarbeiter als das agile Liefermodell. Die Zeiten einer IT, die weitgehend isoliert vom Business in den eigenen vier Wänden operiert, sind vorbei. Im Mittelpunkt einer jeden IT steht stets der Kundennutzen. Um auf diesen reagieren zu können, braucht es agile Entwicklungsmethoden.