So forscht China seine Bürger aus
Eine Alibaba-Tochter testet das Rating bereits
Für das Rating der Bürger spielt ihr Konsumverhalten eine wichtige Rolle. Und alle grossen chinesischen Online-Konzerne arbeiten fleissig mit an der Vision des gläsernen Bürgers. So liefert Alibaba nicht nur Daten zum Einkaufsverhalten seiner Kunden auf seinen Plattformen Tmall und Taobao, sondern hat über sein Kreditportal Sesame Credit bereits eine private Variante des Social-Credit-Systems gestartet. Sesame-Credit-Kunden, die sich freiwillig registrieren, bekommen Bonuspunkte für den Kauf von Bio-Produkten und gesunden Nahrungsmitteln. Wer hingegen Junk Food ordert und den ganzen Tag Videospiele zockt, wird mit Abschlägen bestraft. Für mustergültiges Verhalten winken Rabatte auf Flugreisen oder die Möglichkeit, ein Auto zu mieten, ohne eine Sicherheitsleistung zu hinterlegen.
Was in Deutschland wütenden Protest hervorrufen würde, scheint in China ganz gut anzukommen. So berichtet die Autorin Rachel Botsman in der britischen Ausgabe von "Wired" von jungen Leuten, die einen hohen Social Score als Statussymbol sehen. Sesame Credit teilt seine Rating-Daten nämlich mit Baihe, dem grössten Dating-Portal Chinas. Die Folge: Wer über systemkonformes Verhalten, eine saubere Kreditlinie und gesunde Ernährung viele Sozial-Punkte gesammelt hat, rankt plötzlich auch beim Dating weiter oben.
Grosser Datensatz
Derzeit kann Sesame Credit bereits aus einem Datenschatz schöpfen, der bei Facebook und Google Neid erzeugen dürfte. Denn im Alibaba-Reich wird dem Kunden für nahezu jede Situation des Konsumenten-Lebens eine Lösung angeboten, vom Online-Shopping über Messaging, Online-Gaming, Payment bis hin zu Krediten, Flug- und Kinotickets, Mietwagen und Taxidiensten. Nach eigenen Angaben hat Alibaba allein im Online-Handel 800 Millionen Kundenprofile analysiert. Wer all diese Daten auswerten und intelligent miteinander verknüpfen kann, der erhält ein so genaues Profil seiner Kundschaft, wie es sich deutsche Datenschützer kaum vorstellen können.
Doch Hu Tao, Geschäftsführerin von Sesame Credit, genügt das noch nicht: Unlängst gab sie bekannt, dass sie bei staatlichen Universitäten nach Listen mit Studenten nachgefragt habe, die beim Schummeln erwischt worden waren.
Kontrolle auf Schritt und Tritt
Doch das sind noch nicht alle Möglichkeiten. Wenn SCS ab 2020 landesweit ausgerollt wird, werden sämtliche elektronisch zugänglichen Dokumente der Bürger miteinander verknüpft, seien es Bankunterlagen, Gerichts- oder Krankenakten. Dazu sollen Erkenntnisse aus der Videoüberwachung kommen. Falsches Parken könnte ebenso aktenkundig werden wie Drängeln an der Supermarktkasse. Dafür sind allerdings noch einige technische Hürden zu meistern. Denn die korrekte Analyse des Bewegungsablaufs eines Menschen ist ungleich komplizierter als die Gesichtserkennung. Andererseits: Wenn die automatische Videoüberwachung meldet, dass sich ein Bürger mit schlechtem SCS-Rating an einem Ort aufhält, ist es schon heute möglich, dass ein menschlicher Kontrolleur sich das auf dem Bildschirm einmal genauer ansieht.
Genauso offensiv, wie sich die Regierung bei ihren Überwachungsplänen gibt, werden auch Massnahmen diskutiert, die den Social Score verbessern können. So bietet zum Beispiel Sesame Credit explizit Reisen zu bestimmten Destinationen an, die sich positiv auf das Punktekonto auswirken können. Garniert wird die Offerte mit dem Ratschlag, dort vorzugsweise mit Menschen hinzufahren, die ebenfalls ein gutes Scoring haben. Der allzu nahe Kontakt mit Menschen mit schlechter SCS-Einstufung kann hingegen dem eigenen Rating schaden.
Der Regierung unter Staatschef Xi Jinping spielt SCS in mehrfacher Hinsicht in die Karten: Wenn ein hohes SCS-Rating quasi zum "Volkssport" wird, treten vermutlich wirklich einige positive Effekte zutage - und wenn es nur der vermehrte Genuss von Bio-Obst, mehr Mitgliedschaften bei Fitnessstudios oder häufigere Besuche bei Verwandten sind.
Millionen Chinesen haben keine Kredithistorie
Zudem leidet China an einem Problem, das für ein schnell gewachsenes Entwicklungsland typisch ist: Hunderte Millionen von Chinesen sind nicht kreditwürdig im klassischen Sinn, weil sie keine Kredithistorie besitzen. Sie hatten noch nie ein Haus, ein Auto oder eine Kreditkarte. Sie haben noch keinen Kredit aufgenommen und auch sonst nichts getan, was zur Bewertung ihrer finanziellen Zuverlässigkeit taugen würde. Nach Einschätzungen chinesischer Finanzexperten entsteht allein dadurch der Volkswirtschaft ein jährlicher Schaden von 600 Milliarden Yuan - über 80 Milliarden Euro.