Industrie 4.0 ist viel mehr als IT

3. Ökosysteme berücksichtigen

Um die nächste Perspektive einzuführen, beziehen wir uns auf Anwendungen von Industrie 4.0 in ihrer ausgedehntesten Ausprägung, wie die Entwicklung und die Produktion von Elektroautos oder von brennstoffzellgetriebenen Fahrzeugen oder sogar die nicht mehr so futuristische Perspektive des autonomen Fahrens. Die Komplexität und der Anspruch solcher Vorhaben übersteigt die Umsetzungsmöglichkeiten eines jeden Konzerns bei weitem und erfordert eine Fülle an Kompetenzen, die in den verschiedensten Unternehmungen angesiedelt sind. Zusammengenommen bilden Letztere ein Ökosystem, sprich: ein «Netzwerk aus rechtlich unabhängigen, jedoch wirtschaftlich verbundenen Unternehmungen, die aufeinander angewiesen und doch miteinander im Wettbewerb sind, damit der erwartete beziehungsweise versprochene Kundennutzen zustande kommt» (Sablone; 2021).
Diese besondere Form der Zusammenwirkung wird auch Koopkurrenz (engl. Co-opetition) genannt. Mit diesem Begriff wird die duale Form der Interaktion zwischen Unternehmungen innerhalb eines Ökosystems bezeichnet, die sowohl den Wettbewerb als auch die Zusammenarbeit umfasst. Im Wettbewerb kämpfen Unternehmungen mit Konkurrenten, die ähnliche Produkte und Dienstleistungen anbieten. Ferner müssen sie auch gegenüber den Lieferanten und Kunden günstige Konditionen durchsetzen. Wenn sie über längere Zeit in beiden Hinsichten scheitern – sprich: gegenüber den Konkurrenten sowie den Lieferanten und Kunden – werden sie nicht weiterwirtschaften können.
Wichtig bei Industrie-4.0-Vorhaben ist auch, dass sich diese in die Ökosysteme, an denen das Unternehmen teilnimmt, einbetten lassen
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Dieselben Unternehmungen müssen aber auf einer anderen Eben mit ihren Konkurrenten, Lieferanten und Kunden «kooperieren», weil der Wettbewerb sich nicht lediglich innerhalb eines Ökosystems, sondern auch zwischen Ökosystemen abspielt. Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren, Elektrofahrzeuge sowie brennstoffzellbetriebene Fahrzeuge bilden unterschiedliche Ökosysteme. Ebenso bilden sich um Betriebssysteme wie Android und iOS jeweilige Ökosysteme. Die einzelnen Unternehmungen sind auf die Lebendigkeit des gesamten Netzwerks angewiesen. Wenn zum Beispiel die Hersteller von Komplementärprodukten – das wären beispielsweise in Bezug auf Betriebssysteme App-Produzenten – aufgrund schlechter Bedingungen weniger absetzen, werden auch die aktuellen und ­potenziellen Kunden des Ökosystems weniger Anreize ­haben, im Ökosystem zu bleiben beziehungsweise überhaupt einzutreten.
Es kommt zwar vor, dass sich Unternehmungen an verschiedenen Ökosystemen beteiligen, um ihre Abhängigkeit zu verringern respektive ihre Erträge zu steigern. Dies erfordert aber eine üppige Ressourcenausstattung, die meistens grösseren Unternehmungen vorbehalten ist, während kleinere sich eher fokussieren müssen.
Das Gelingen unternehmensübergreifender Vorhaben hängt somit nicht nur von der Erfüllung technischer Voraussetzungen ab wie zum Beispiel von der Definition von Standards, der Gestaltung von Schnittstellen und allgemeiner von der ausgedehnten Nutzung der Vorteile der Modularität. Solche technischen Voraussetzungen sind eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung, um die Überlebensfähigkeit eines Ökosystems zu sichern, geschweige denn sein Durchsetzungsvermögen. Entscheidend ist der empfundene Nutzen, der vom jeweiligen Ökosystem für alle Teilnehmenden am Ökosystem generiert wird.

4. Werte werden immer wichtiger

Die vierte, zunehmend wichtige Perspektive ist diejenige der Gesellschaft. Themen wie Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung sind keine neuen Themen, wenn man denkt, dass sie schon in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den Strategiekursen an der Harvard Business School behandelt wurden. Inzwischen haben aber die damit verbundenen Werte in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen und sind ins Bewusstsein vieler eingedrungen, sodass sie zu regulatorischen Interventionen führen und allmählich die Kaufentscheidungen beeinflussen.
Das Zusammenspiel mit Initiativen im Rahmen der Industrie 4.0 ist relevant. Verschiedene Trends signalisieren einen veränderten Umgang mit den verfügbaren Ressourcen: Dematerialisierung, Virtualisierung, Verschiebung des Konsumverhaltens vom Besitz zur Nutzung (As-a-Service-Phänomen). All diese Trends lassen sich als Begleiterscheinungen oder Ausdrucksweisen von Initiativen in Zusammenhang mit Industrie 4.0 charakterisieren. Wo noch Potenzial für Veränderung beziehungsweise die dramatische Notwendigkeit der Erkundung neuer, frugalerer Wege bestehen, ist im Energieverbrauch. Die Nutzung erneuerbarer Energien verspricht eine Ablösung von beschränkten Ressourcen, wird aber allein den Bedarf nicht, jedenfalls nicht so rasch wie gewünscht und nötig, abdecken können, sodass ressourcenschonende Massnahmen sehr relevant werden.

Andrea L. Sablone
Autor(in) Andrea L. Sablone



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