IoT-Retrofitting
18.09.2019, 07:11 Uhr
Maschinen und Anlagen ins IoT katapultieren
Um fit fürs IIoT zu werden, sind in vielen Fällen keine Neuanschaffungen nötig. Oft lassen sich auch Bestandsmaschinen kostengünstig nach- beziehungsweise aufrüsten.
Umrüsten für das Industrielle Internet der Dinge (IIoT): Eine vollständige Vernetzung der Maschinen und Anlagen bildet die Grundlage für die Smart Factory, die Produktivitätssteigerungen, geringere Produktionskosten und eine bessere Ressourceneffizienz verspricht. Es kommt jedoch selten vor, dass Unternehmen dafür eine neue Fabrik errichten oder den kompletten Maschinenpark erneuern, denn dies wäre mit einem enormen Aufwand und unzumutbar hohen Kosten verbunden. Auch ist das meist gar nicht notwendig, weil viele Maschinen trotz eines vergleichsweise hohen Alters einwandfrei laufen. Deshalb rückt das IoT-Retrofitting immer mehr in den Fokus.
Damit ist das Nachrüsten bestehender Maschinen und Anlagen gemeint, um sie für die Industrie 4.0 fit zu machen. Dieser Strategie kommt im Zusammenhang mit Predictive Maintenance nach Beobachtung von Experten besondere Bedeutung zu, weil Unternehmen allein dadurch viele Kosten sparen können. Ein weiterer spannender Anwendungsbereich ist die Automatisierung der Steuerung. Dieser ist zwar deutlich kleiner, nicht zuletzt, weil Sicherheitsaspekte hier eine weitaus grössere Rolle spielen. Richtig umgesetzt kann der Ansatz jedoch ebenfalls viele Vorteile bieten: «Dadurch kann zum Beispiel eine kontinuierliche Fernsteuerung sichergestellt oder das Verhalten der Maschine bei auftretenden Fehlern bestimmt werden», erläutert Stefan Ried, IoT Practice Lead und Principal Analyst beim IT-Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Crisp Research.
Neues Leben durch Sensoren
Das Ziel des IoT-Retrofittings ist vereinfacht gesagt das Abgreifen und Weiterleiten von Daten, die bis dato nicht zugänglich waren. Um dies zu ermöglichen, können die Maschinen und Anlagen im ersten Schritt mit Sensorik ausgestattet werden, um zum Beispiel Prozess- oder Maschinendaten abzulesen. Diese werden mit Hilfe von Kommunikationstechnik wie IoT-Gateways über das Netzwerk an die übergeordneten IT-Systeme zur Weiterverarbeitung weitergeleitet. Sollten die Anlagen und die Fabrikhallen über keine oder unzureichende Internetverbindung verfügen, muss ausserdem die entsprechende Konnektivität geschaffen werden. Anschliessend können Daten in einer zentralen Software, beispielsweise einer IoT-Plattform oder einem Manufacturing Execution System (MES), gesammelt und verarbeitet werden, um Ergebnisse zu visualisieren und Handlungsempfehlungen zu generieren.
“Was auf dem Weg zum IoT alles möglich ist, kann vor dem ersten Schritt gar nicht überblickt werden„
Bernhard Müller, Geschäftsleitung Industrie 4.0 der SICK
Welche Hardware und Software im Endeffekt tatsächlich benötigt wird, hängt immer von der Frage ab, was der Zweck des IoT-Retrofittings ist und welche Daten für diesen Zweck verwendet werden sollen. «Wenn es zum Beispiel um Predictive Maintenance geht, dann ist die Maschine selbst der Informationsgeber. Bei der Überwachung von Prozessen wie Materialfluss oder Qualität werden Daten ausserhalb der Maschine erfasst», erklärt Bernhard Müller, Geschäftsleitung Industrie 4.0 beim Sensorhersteller SICK. Darüber hinaus muss geklärt werden, welche Voraussetzungen bereits erfüllt sind, denn manche Maschinen verfügen zwar über die erforderliche Sensorik, es fehlt aber zum Beispiel an einer Kommunikationsschnittstelle. Bei anderen müssen wiederum zusätzliche Sensoren angebracht werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Sensoren – ganz gleich ob vorhandene oder neu angebrachte – kontinuierlich enorme Datenmengen liefern. Davon ist jedoch womöglich nur ein kleiner Teil für die konkrete Maschine relevant, während der Rest zwar wichtige Einblicke hinsichtlich des gesamten Maschinenparks liefern kann, für die Performance-Überwachung dieser Maschine aber keine Rolle spielt.
Vor diesem Hintergrund werden die Themen Machine Learning und Edge-Computing für die Retrofit-Hardware immer relevanter. «Das Ziel ist, mehr Daten im Edge, sprich direkt im Sensor oder an der Maschine selbst, abzuarbeiten, sodass man nur noch die nützlichen Informationen in die Cloud legt», erklärt Bernhard Müller. So kann man beispielsweise nur ganz konkrete Parameter wie Geräusche oder Temperaturdaten von mehreren Maschinen in die Cloud senden, um diese dort auszuwerten und vorhersagen zu können, wann mit dem Ausfall einer der Maschinen zu rechnen ist.
Der neueste Trend geht also hin zu schlauerer Hardware für die Nachrüstung von Bestandsmaschinen. Das sieht auch Stefan Ried so: «Frühere Edge-Devices haben nur Daten von einem Gerät abgegriffen und einfach über das MQTT-Protokoll (Message Queuing Telemetry Transport) in die Cloud weitertransportiert. Heute besitzen sie jedoch sehr viel Logik, weil die Geräte leistungsstärker und die Algorithmen optimiert worden sind», ergänzt der Crisp-Research-Experte.
Nachrüstung vs. Neuanschaffung
Die Entscheidung für oder gegen ein IoT-Retrofitting-Projekt sollte nicht allein von den Software- oder Hardware-Gegebenheiten abhängig gemacht werden. Zuvor müssen je nach Anwendungsfall einige Gesichtspunkte beachtet und die Vor- und Nachteile genau gegeneinander abgewogen werden. Ob Predictive Maintenance, vollständige Automatisierung der Steuerung oder auch Qualitätsverbesserung – bei all diesen Anwendungsfällen spielt zum Beispiel das Alter der Maschinen keine ausschlaggebende Rolle. Extrembeispiel: Bosch Rexroth präsentierte 2016 eine Drehbank aus dem Jahr 1887, die mit einem IoT-Gateway vernetzt wurde.
In der Praxis müsse man sich vielmehr in erster Linie die Frage stellen, ob ein IoT-Retrofitting wirtschaftlich sinnvoll ist und welche messbaren Vorteile sich ergeben, so Julian Weinkötz, Produktmanagement SPS und IoT-Software bei Bosch Rexroth: «Ein guter Ansatz ist ein schrittweises Vorgehen. Anwender binden in einem überschaubaren Pilotprojekt eine Station oder Maschine an das IoT an und evaluieren die Ergebnisse.» Auf diese Weise könnten Unternehmen nach Meinung des Bosch-Experten am besten konkrete Rückschlüsse auf die Wirtschaftlichkeit und damit auf die Sinnhaftigkeit eines IoT-Retrofittings ziehen.
Des Weiteren muss man bedenken, dass die Interaktion mit den nachgerüsteten Maschinen sich oft schwierig gestaltet: «Man kann zwar Daten gut ablesen, aber viele ältere Maschinensteuerungen lassen sich über ein Retrofit-Gateway nicht aktiv ansprechen», stellt Stefan Ried fest. Mit den modernen Maschinen, die für das IoT-Zeitalter gebaut worden sind, hat man dieses Problem nicht.
Schon allein wenn es nur darum geht, Sensoren ausserhalb einer Maschine anzubringen, sind manche Retrofitting-Projekte nach Aussage von David Petrikat, Global Director für Marketing beim IIoT-Plattform-Anbieter Relayr, «eine Operation am offenen Herzen». Petrikat weiter: «Treiber sind hier der aktuelle Zustand der Maschine und die benötigte Datenlage.» So ein invasiver Eingriff kann darüber hinaus dazu führen, dass damit die Herstellergarantie auf eine nachgerüstete Maschine erlischt.
“Sehr strategisch auf ein konkretes Ziel hinzuarbeiten ist erfahrungsgemäß viel sinnvoller, als einfach auf möglichst viel Technologie zu setzen„
David Petrikat,Global Director Marketing bei Relayr
Trotz der genannten Punkte bringt das IoT-Retrofitting gegenüber Neuanschaffungen viele Vorteile mit sich. Der Kostenfaktor ist wahrscheinlich eines der wichtigsten Argumente für die Nachrüstung. Die Ausstattung des vorhandenen Maschinenparks mit neuer Hardware und Software erfordert in der Regel wesentlich weniger Investitionen als dessen vollständige Erneuerung. So hat Bosch Rexroth bis dato nicht vernetzte Hydraulik-Prüfstände mit seinem IoT Gateway Starter Kit in das IoT eingebunden und dadurch die Wartungskosten dauerhaft um 25 Prozent gesenkt. Nach Aussage von Julian Weinkötz hat sich diese Investition bereits nach 18 Monaten amortisiert.
Dank des IoT-Retrofitting-Ansatzes verlängert sich auch die Nutzungsdauer der alten Bestandsmaschinen und Anlagen. Die Mechanik ist oft auf viele Jahre oder gar Jahrzehnte ausgelegt – es sind die Software und die IT-Systeme, die sich schnell entwickeln und damit auch schnell veralten.
Was zu beachten ist
Wenn die Entscheidung fürs IoT-Retrofitting gefallen ist, ist der nächste entscheidende Schritt eine klare Zielsetzung, was mit dem Projekt erreicht werden soll. Sie gibt Aufschluss darüber, welche Daten tatsächlich gesammelt werden sollen, damit unnötige Kosten vermieden werden. Relayr-Mann David Petrikat kennt das aus erster Hand: Ein Relayr-Kunde wollte eine grosse Zahl an Sensoren einbauen, um bestimmte Anomalien für die Erstellung eines prädiktiven Modells zu erkennen. Dies wäre mit hohen Kosten und grossem Aufwand verbunden gewesen. Es hat sich jedoch im Lauf der Zusammenarbeit herausgestellt, dass bereits wenige Sensoren genügten, um das zuvor festgelegte Geschäftsziel zu erreichen. «Sehr strategisch auf ein konkretes Ziel hinzuarbeiten ist also erfahrungsgemäss viel sinnvoller, als einfach auf möglichst viel Technologie zu setzen», fasst David Petrikat seine Beobachtungen zusammen.
Darüber hinaus muss man bei Pilotprojekten bedenken, dass die Rahmenbedingungen, die sich auf eine einzelne Maschine beziehen, womöglich nur in diesem engen Zusammenhang Gültigkeit haben. «Wenn aber dann der Rollout in einer heterogenen Maschinenlandschaft – also mit unterschiedlichen Maschinen-Typen, -Modellen und Altersstrukturen – durchgeführt werden soll, dann skaliert die Lösung unter Umständen nicht», so Petrikat weiter.
Der Aspekt der Datensicherheit darf selbstverständlich auch nicht vergessen werden. Denn auch die Daten, die lediglich für die Wartung von Retrofit-Lösungen gesammelt werden, können unter Umständen sensible Informationen enthalten, die nicht nach aussen gelangen dürfen. Deshalb müssen Unternehmen bei der Auswahl von Hardware darauf achten, dass der Hersteller einen ausreichenden Schutz gewährleisten kann, warnt Stefan Ried. «Insbesondere in Deutschland und gerade im Fall von IoT-Retrofit ist die Frage, welche Daten in welchem Umfang überlassen werden, oft eine enorme Vertrauenssache», so die Beobachtung des Crisp-Research-Analysten.
“Ein reiner IT-Ansatz ohne Automations- und Prozess-Know-how kann schnell eine unüberschaubare Datenflut ohne Aussagekraft mit sich bringen„
Julian Weinkötz, Produktmanagement SPS und IoT-Software der Bosch Rexroth
Eine weitere wichtige Frage bei IoT-Retrofitting-Projekten ist, auf welche Standards gesetzt wird beziehungsweise ob überhaupt Standards herangezogen werden können. Auch wenn sich in manchen Bereichen bereits einige Standards etabliert haben, ist dies in anderen – zum Beispiel bei Low-Power Wireless oder Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) – noch nicht der Fall. Dies kann eine Herausforderung für die Projektimplementierung darstellen. Zumal es für Ingenieure sowieso eine grosse Versuchung bedeutet, eigene Lösungen zu programmieren und mit proprietärer Hardware aus dem Consumer-Bereich umzusetzen, wie Julian Weinkötz von Bosch Rexroth weiss.
Diese Vorgehensweise kann sich jedoch auf Dauer als nachteilig erweisen: «Oft hat der Programmierer keine genaue Dokumentation erstellt, die Hardware ist nach kurzer Zeit nicht mehr verfügbar und jede Anpassung ist zeit- und kostenintensiv.»
Deshalb rät der Bosch-Rexroth-Experte den Unternehmen, auf standardisierte Lösungen zu setzen, die von den Herstellern regelmässig aktualisiert werden und keine eigene Programmierung erfordern.
Fazit & Ausblick
Heute stellt man sich kaum noch die Frage, ob sich der Einsatz von IoT-Technologien lohnt, sondern vielmehr die, wie genau man davon profitieren kann. Die technischen Voraussetzungen sind vorhanden, es geht nunmehr um die richtige Umsetzung. Bernhard Müller von SICK regt an, in einem eng umgrenzten Bereich oder mit einem problembehafteten Prozess zu starten und schrittweise die weiteren Umsetzungsmöglichkeiten auszuloten: «Was auf dem Weg zum IoT alles möglich ist, kann vor dem ersten Schritt gar nicht überblickt werden. Erst durch erste Implementierungen wird das Potenzial sichtbar.» Der SICK-Experte spricht dabei aus eigener Erfahrung. Seit Mitte 2018 fertigt das in Waldkirch bei Freiburg ansässige Unternehmen fünf Produktfamilien in der sogenannten 4.0 NOW Factory – einer vernetzten Fabrik mit autonomen digitalen Produktions- und Steuerungsprozessen.
Man darf die Komplexität solcher Projekte nicht unterschätzen. Das IoT-Retrofitting bezieht sich selten nur auf die Maschinen und Anlagen. Es geht letzten Endes nicht nur darum, Daten mit Sensoren zu generieren, sondern diese auch weiterzuleiten und zu bearbeiten. «Während die Nachrüstung der Maschinen selbst wenig invasiv gestaltet werden kann, ist die entsprechende Anpassung der IT-Infrastruktur, um zum Beispiel Datenübertragung überhaupt zu ermöglichen, unter Umständen mit sehr viel Aufwand verbunden», gibt Bernhard Müller zu bedenken.
“Insbesondere in Deutschland und gerade im Fall von IoT-Retrofit ist die Frage, welche Daten und in welchem Umfang überlassen werden, oft eine enorme Vertrauenssache„
Stefan Ried, IoT Practice Lead und Principal Analyst bei Crisp Research
Deshalb muss man vor jedem IoT-Retrofitting-Projekt zunächst prüfen, welche technischen Voraussetzungen dafür bereits erfüllt sind und welche noch geschaffen werden müssen. Nicht weniger wichtig ist vor diesem Hintergrund auch die erforderliche Fachkompetenz. Unter Umständen müssen externe Spezialisten ins Boot geholt werden. Bosch-Mann Julian Weinkötz empfiehlt, bei der Auswahl der Partner darauf zu achten, dass sie nicht nur die richtige Technik, sondern auch ein tiefes Verständnis für die Automation und für Produktionsprozesse mitbringen. «Ein reiner IT-Ansatz ohne Automations- und Prozess-Know-how kann schnell eine unüberschaubare Datenflut ohne Aussagekraft mit sich bringen. Nur ein ganzheitlicher Ansatz für IoT-Retrofitting führt zum Erfolg.»